"Je suis Charlie" erinnert an die Anschläge vor einem Jahr
KNA 30.12.2015
Keine leichte Kost, aber ein wichtiger Film
"Je suis Charlie" erinnert an die Anschläge vor einem Jahr
Von Irene Genhart
Bonn (KNA) Ein Jahr ist es her, dass zwei maskierte Männer in die Redaktionsräume des französischen Satire-Magazins "Charlie Hebdo" eindrangen und elf Menschen töteten. Sie schrien Parolen wie "Allahu Akbar" und "On a venge le prophete" ("Wir haben den Propheten gerächt") und wollten ihre Tat als Rache für die von der Zeitschrift veröffentlichten Mohammed-Karikaturen verstanden wissen.
Später übernahmen Al-Kaida und der "Islamische Staat" die Verantwortung für den Anschlag der beiden in Frankreich aufgewachsenen Brüder mit algerischen Wurzeln. Ein tags darauf von einem anderen Täter verübter Anschlag auf einen koscheren Supermarkt in Paris soll damit in Zusammen-hang stehen. Der Film "Je suis Charlie" (ab 7. Januar im Kino) erinnert jetzt an diese Ereignisse. Vor den schrecklichen Pariser Terroranschlägen am 13. November war der Überfall auf "Charlie Hebdo" das heftigste Attentat und mehr als bloß die Ermordung einiger bekannter und beliebter Zeichner, Texter und Redakteure. Es war ein Angriff auf die französische Seele, auf die Gesellschaft, die Grundwerte der Demokratie, insbesondere auf die Freiheit: die Meinungs-, Rede- und Pressefreiheit.
Eine Welle der Betroffenheit, Trauer, Solidarität und Empörung schwappte um die Welt. Unmittelbar nach dem Anschlag begannen die Menschen in Paris und vielen anderen Städten, auf die Straße zu gehen. "Je suis Charlie" stand auf ihren Plakaten, ein Ausspruch des Journalisten Joachim Roncin, den "Charlie Hebdo" auf seiner Homepage gepostet hatte. Am Sonntag, dem 11. Januar, dem Tag der offiziellen Gedenkkundgebung, zogen etwa 1,5 Millionen Menschen durch die Straßen von Paris; mehr waren es seit Verkündung des Kriegsendes 1945 nie. Unter ihnen befanden sich auch die Filmemacher Daniel und Emmanuel Leconte, Vater und Sohn. Daniel Leconte hatte 2008 "C'est dur d'etre aime par des cons" gedreht, einen Dokumentarfilm über die zwölf in einer dänischen Zeitung veröffentlichten Mohammed-Karikaturen, die 2005 für Furore sorgten. Er hatte damals auch einige der bei "Charlie Hebdo" beschäftigten Karikaturisten interviewt, ohne dass das Material bislang veröffentlicht worden war.
Quasi unmittelbar nach den Attentaten begannen Vater und Sohn Leconte mit dem Dreh zu "Je suis Charlie", einer über weite Strecken aus unmittelbarer Betroffenheit resultierenden Chronik der Ereig-nisse, in deren Zentrum die Aufnahmen der Kundgebung vom 11. Januar stehen. Ergänzt werden sie durch Interviews, die in den wenigen Tagen bis zum Erscheinen der ersten "Charlie Hebdo"-Ausgabe nach dem Anschlag mit den noch lebenden Redaktionsmitgliedern entstanden, etwa den Zeichnern Luz (Renald Luzier) und Riss (Laurent Sourisseau), die jetzt zusammen mit Chefredakteur Gerard Biard für die Leitung des Magazins verantwortlich sind.
Überaus berührend ist insbesondere das Gespräch mit der Cartoonistin Coco (Corinne Rey), die den Tätern im Treppenhaus begegnete und die von ihnen gezwungen wurde, die Tür zur Redaktion zu öffnen. Die Chronik hat ihren Höhepunkt im Erscheinen des nächsten Heftes. Titelbild ist eine Karika-tur von Luz. Sie zeigt Mohammed mit "Je suis Charlie"-Banner und der Überschrift: "Tout est par-donne" ("Alles ist vergeben").
Ansatzweise geht es dem Film auch um Aufgabe und Funktion von Satire, Karikatur und Humor, was schon in den Interviews mit den beim Anschlag umgekommenen Zeichnern eine Rolle spielte, aber auch im Gespräch mit der Philosophin Elisabeth Badinter und dem ehemaligen "Charlie Hebdo"-Chefredakteur Philippe Val. Die beiden Lecontes wollen viel mit ihrem Film, der vor allem aus Interviews und Gesprächen besteht. Der geführte Diskurs ist über weite Strecken hoch intellektuell, das im Bild Gezeigte, etwa die Bilder des Attentats, bisweilen heftig und unmittelbar erschütternd.
"Je suis Charlie" lässt sich deshalb nicht einfach rezipieren; wenn der Film am Ende mit Ausschnitten aus alten Home-Movies zum Nachruf auf die Verstorbenen ansetzt, wird er sehr emotional. Doch "Je suis Charlie" ist ein wichtiger Film. Weil die Diskussion über die Rede-, Presse-, Meinungsfreiheit nie aufhören darf.
Hinweis: Die Autorin ist Mitarbeiterin des alle 14 Tage erscheinenden Filmmagazins „Filmdienst“.
(KNA - plmmn-89-00142)
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