Konflikt erreicht im Libanon zunehmend die Glaubensrichtungen
KNA 07.06.2013
Von Karin Leukefeld (KNA)
Beirut (KNA) Er fährt Fahrrad, trägt Kinder auf seinen Schultern, spielt Wasserball und fährt Ski. Er lässt sich beim Friseur fotografieren oder beim traditionellen Hummus-Frühstück. Für die allgegenwärtigen Fotografen stellt sich der salafistische Prediger Ahmad al-Assir mit dem mächtigen schwarzen Bart auch mit einer Kalaschnikow in Pose. Allein oder umgeben von Anhängern hält der Scheich mit seinen öffentlichen Auftritten den Libanon in Atem, wenn er die (schiitisch-muslimische) Hisbollah als "Ungläubige" bezeichnet und zur Verteidigung des wahren (sunnitischen) Islam aufruft.
Er unterstütze die "kämpfenden Brüder in Syrien", teilte er vor wenigen Tagen beim Freitagsgebet in der Moschee von Abra, einem kleinen Ort nördlich der Hafenstadt Saida, mit. Scheich Assir hat eine "Freie Widerstandsbrigade" ins Leben gerufen, die den "Heiligen Krieg" in Syrien ausfechten soll. Freiwillige Kämpfer konnten sich in der Moschee registrieren lassen. Sammelpunkt der Gotteskrieger war in den vergangenen Monaten das syrische Kusair, knapp zehn Kilometer nördlich der libanesischen Grenze.
Nach einer erbarmungslosen Schlacht wurde Kusair kürzlich vom syrischen Militär wieder eingenommen; Unterstützung gab es von der Hisbollah. Die legitimierte ihr Eingreifen damit, dass in Kusair und 23 Dörfern und Meilern Libanesen (Schiiten, Sunniten, Christen, Alawiten) leben, von denen viele Anhänger der Hisbollah sind. Ein Federstrich der französischen Mandatsmacht (1920-1946) hatte in den 1930er Jahren durch deren Heimat eine willkürliche Grenze gezogen.
Die 1985 gegründete Hisbollah ist religiös als schiitisch-muslimisch einzuordnen. Sie entstand im Zuge der Islamischen Revolution im schiitischen Iran als libanesische Widerstandsbewegung gegen die israelische Besatzung (1978-2000). Militärstrategisch ist die Organisation eingebunden in die 1979 geschlossene Partnerschaft zwischen Damaskus und Teheran. Diese ursprünglich geostrategische syrisch-iranische Achse richtete sich gegen die mit dem Westen verbündeten Staaten der Region, insbesondere gegen Israel, Saudi-Arabien und die Türkei. Iran und Syrien gehören den Blockfreien Staaten an. In Sachen Syrien kooperiert Iran heute mit Russland und China.
Die Darstellung des geostrategischen Konkurrenzkampfes zwischen Iran und Saudi-Arabien wird heute fast ausschließlich religiös eingeordnet: Schiiten gegen Sunniten - egal ob es um Bahrain geht oder um Syrien. Mit dem militärischen Eingreifen der Hisbollah in Kusair findet die konfessionelle Mobilisierung der Aufständischen neue Nahrung. Der (sunnitisch-muslimische) Großmufti aus Saudi-Arabien, Scheich Abdulaziz Al-Shaikh, rief Politiker und Kleriker auf, "die Hisbollah zu bestrafen und alle, die sie unterstützen".
Ausdrücklich stellte sich der saudische Großmufti hinter den salafistischen Prediger Yusuf al-Karadawi, der von Ägyptens früherem Präsidenten Hosni Mubarak ausgewiesen wurde und zuletzt in Katar im Exil lebte. Über den Nachrichtensender Al Dschasira erreicht Karadawi mit seiner Sendung "Scharia und das Leben" Millionen Zuschauer weltweit. Schiiten verurteilt er als "Ungläubige"; im Mai rief er sunnitische Muslime auf, sich als Freiwillige den Aufständischen in Syrien anzuschließen.
Angestachelt von Predigern wie Karadawi oder dem libanesischen Scheich Assir ziehen junge Männer gegen vermeintlich "Ungläubige" in den Krieg. Man werde die Waffen erst niederlegen, wenn alle "Schiiten und Iraner" ins Meer getrieben seien, erklärte kürzlich die sogenannte Freie Syrische Armee. Auch wenn die Erklärung rasch wieder zurückgezogen wurde, spiegelt sie doch das Gedankengut von Salafisten und Gotteskriegern, die in Syrien einen Gottesstaat oder - wie Al-Kaida-Chef Ayman al-Zawahiri - ein Islamisches Kalifat errichten wollen.
Der mörderische Streit zwischen "Schiiten und Sunniten" hat seit Jahresbeginn in der nordlibanesischen Hafenstadt Tripoli 35 Tote gefordert. Die Lage in Tripoli sei vergleichbar mit der "Gesetzlosigkeit im afghanischen Kandahar", sagte vor wenigen Tagen ein anonymer Geheimdienstbeamter einem Reporter der Beiruter Tageszeitung "Daily Star". Libanesische und regionale Akteure nutzten die hoffnungslose wirtschaftliche Lage aus, um junge Männer für ihre Interessen zu rekrutieren.
Kein Wunder, dass der Ruf zum "Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen' auch bei jungen Palästinensern in den libanesischen Flüchtlingslagern auf fruchtbaren Boden fällt. Seit ihrer Kindheit haben sie die Erfahrung gemacht, dass es für sie keine Perspektive gibt.
(KNA - nkqkr-89-00071)
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