Der Kopftuchstreit erregt die Gemüter in der Türkei
KNA 31.10.2013
Von Bettina Dittenberger (KNA)
Istanbul (KNA) Auch 90 Jahre nach der Gründung der türkischen Republik erregt die Frage, in welchem Maß das Kopftuch in der Öffentlichkeit getragen werden darf, die Gemüter. Die Initiative von vier Politikerinnen der türkischen Regierungspartei AKP, mit Kopftuch im Parlamentsplenum von Ankara Platz zu nehmen, hat heftige Kritik säkularistischer Gruppen hervorgerufen. Im Plenum gab es am Donnerstag erregte Debatten, nachdem die vier Abgeordneten erschienen waren. Das Kopftuch ist das wichtigste Symbol im türkischen Kulturkampf, in dem sich beide Seiten als Opfer sehen und empfindlich reagieren.
Die türkische Auslegung von Laizismus lief in der Vergangenheit nicht nur auf eine Trennung von Staat und Religion hinaus wie in Westeuropa, sondern vielmehr auf eine Kontrolle der Religion durch den Staat. Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938) hatte ein distanziertes Verhältnis zum Islam und betrachtete ihn als Feind der Moderne, der die Entwicklung des Landes behindere. Atatürk verbot in den 20er Jahren den Fez, die damals vorherrschende Kopfbedeckung der Männer, und warb für das Ideal einer modernen und unverschleierten Frau. Zu seiner Amtszeit erhielt Frauen bereits in den 30er Jahren das Wahlrecht.
In den folgenden Jahrzehnten bemühten sich die selbsternannten Wächter über Atatürks Erbe in Armee, Justiz und Bürokratie, potenzielle islamistische Tendenzen im Keim zu ersticken, teilweise mit Hilfe von Staatsstreichen gegen gewählte Regierungen. Insbesondere nach der Entmachtung der islamistischen Regierung von Ministerpräsident Necmettin Erbakan 1997 verschärfte sich der Kopftuchstreit. Im Jahr 1999 wurde die islamistische Abgeordnete Merve Kavakci aus dem Parlament geworfen und ausgebürgert, weil sie im Kopftuch zur Vereidigung erschien.
Die im Jahr 2001 gegründete AKP des heutigen Regierungschefs Recep Tayyip Erdogan verstand sich von Anfang an als Verteidigerin der Freiheit, das Kopftuch zu tragen. Die Aufhebung des Kopftuchverbotes in staatlichen Institutionen wurde aber erst mit der schrittweisen Entmachtung säkularer Eliten in Armee und Justiz möglich. Zunächst fiel vor drei Jahren der Kopftuchbann für Studentinnen; vor wenigen Wochen hob die Erdogan-Regierung auch das Kopftuchverbot in anderen öffentlichen Institutionen auf. Seitdem dürfen Lehrerinnen und zahlreiche andere Staatsbedienstete bei der Arbeit das Kopftuch tragen. In Kraft blieb das Verbot jedoch für Richterinnen sowie bei der Polizei und dem Militär.
Da mehr als die Hälfte der Türkinnen das Kopftuch anlege, sei es undemokratisch, die Kopfbedeckung aus Schulen oder dem Parlament herauszuhalten, argumentiert die islamisch-konservative AKP. Doch die Säkularisten, vertreten durch die Oppositionspartei CHP, sehen eine Erlaubnis für das Kopftuch im Parlament als Einzug des politischen Islam ins Allerheiligste der laizistischen Republik und damit als weiteren Schritt einer Islamisierung der Türkei. Erdogans Anhänger dagegen sprechen von einer Normalisierung, schließlich sei die Türkei zu mehr als 99 Prozent muslimisch. Der Streit ums Kopftuch - und damit um die Identität des Landes - dürfte auch nach dem jüngsten Vorfall im Parlament weitergehen.
(KNA - nlknl-89-00099)
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