Wahlrechtsstreit stellt den Libanon vor eine Zerreißprobe
KNA 24.06.2013
Von Andrea Krogmann (KNA)
Beirut (KNA) Offiziell ist es die Syrien-Krise, die das libanesische Parlament erstmals seit Ende des Bürgerkrieges 1990 veranlasste, seine eigene Amtszeit zu verlängern. Eigentlich wäre diese am Donnerstag ausgelaufen. Doch statt wie geplant im Juni wählen zu lassen, gibt sich das Parlament weitere 17 Monate. Im Hintergrund steht der Streit um eine immer wieder aufgeschobene Wahlrechtsreform – Spiegel der politischen und konfessionellen Zerrissenheit des Landes, die auch die libanesischen Christen spaltet.
Nicht erst der Krieg in Syrien hat die politischen Fronten im Libanon geprägt. Spätestens seit der "Zedern-Revolution" 2005 im Zuge der Ermordung von Ministerpräsident Rafik Hariri stehen sich das prowestlich-antisyrische Parteienbündnis "14. März" unter sunnitischer Führung und ihr antiwestlich-prosyrisches Pendant "8. März" schiitischer Dominanz gegenüber – mit Christen auf beiden Seiten.
Auch wenn der Flächenbrand im Nachbarland die sensible Balance zunehmend gefährdet, scheint der Verweis auf die Sicherheitslage ein Ablenkungsmanöver vom Scheitern an einer anderen Front: der seit 1990 geplanten Wahlrechtsreform, mit der sich die rivalisierenden Kräfte festgefahren haben. Bei allem Streit ist man sich durch alle Lager einig: So wie bisher geht es nicht mehr. Insbesondere christliche Kräfte beklagten, das alte Wahlrecht von 1960 – eine Mehrheitswahl nach dem "The winner takes it all"-Prinzip – gefährde eine faire christliche Vertretung und damit das konfessionelle Zusammenleben.
Über den neuen Modus herrscht allerdings Uneinigkeit auch unter Christen. Der Regierungsplan, der die Aufteilung des Landes in 13 Wahlkreise mit Proporzwahlrecht vorsah, hatte mit Staatspräsident Michel Sleiman, selbst maronitischer Christ, sowie den Parteien des "8. März" einflussreiche Anhänger. Ebenso mächtige Kräfte des "14. März" – Drusenführer Walid Dschumblatt mit seiner "Fortschrittlichen Sozialistischen Partei" und Samir Geagea, Führer der "Christlichen Libanesischen Streitkräfte" – opponierten gegen den Vorstoß. Eine große christliche Mehrheit schien zunächst der orthodoxe Gegenentwurf zu erreichen, dem auch die Hisbollah und die schiitische Amal-Bewegung zugeneigt waren: In einem einzigen Wahlkreis für das gesamte Land sollte jede religiöse Gruppe ihre eigenen Abgeordneten wählen. Kritiker, darunter Sleiman und Dschumblatt, sprachen von einem System "religiöser Apartheid", das der "kürzeste Weg in politische Gewalt" sei. Auch dieser Entwurf scheiterte.
Der Verfassungsrat aus je fünf muslimischen und christlichen Vertretern hätte die Parlamentswahlen per Beschluss erzwingen können, scheiterte jedoch in vier Anläufen am nötigen Quorum. Ein drusisches und zwei schiitische Mitglieder boykottierten die Sitzungen – und legitimierten so die Verlängerung der Legislaturperiode. Diese stößt bei vielen Christenvertretern auf Widerstand. Entschiedener Gegner ist etwa der Patriarch der Maroniten, Kardinal Bechara Rai – der darin Rückendeckung erhält vom sunnitischen Großmufti Scheich Mohammed Raschid Qabbani. Beide riefen bis zuletzt zu einer ordnungsgemäßen Durchführung der Wahlen auf - und zu einem "Wahlrecht im Dienst des Landes".
Aus dem Wahlrechtsstreit ist nach Meinung von Beobachtern kein Sieger hervorgegangen. Im Lager des 8. März hat die traditionell starke Allianz von Hisbollah und Michel Aoun einen Dämpfer bekommen. Der maronitische Ex-General und seine "Freie Patriotische Bewegung" wehrten sich gegen die Wahlverschiebung und wollen diese als verfassungswidrig anfechten. Auch wenn sich Aoun bei baldigen Wahlen Chancen auf das Präsidentenamt erhoffen dürfte: Sein Boykott der Verschiebung dürfte auch eine Warnung an den schiitischen Verbündeten sein, nicht auf Kosten des Libanon im Syrien-Krieg mitzumischen. Auch im Lager des "14. März" sorgten die Reformvorschläge für Spaltungen. Mit den "Forces Libanaises" (FL) und der Kata'ib sprachen sich zwei christliche Parteien für den orthodoxen Entwurf aus – und damit gegen den Bündnispartner "Zukunftsbewegung".
An anderer Front nahmen Vertreter von sechs christlichen Minderheiten die Diskussionen zum Anlass, um ihrerseits eine Marginalisierung durch stärkere Konfessionen zu beklagen. Der bislang einzige Sitz der Minderheiten, so die Forderung, müsse ab der kommenden Legislaturperiode durch zwei weitere Sitze aufgestockt werden. Noch einen Schritt weiter ging der syrisch-katholische Patriarch, der einen eigenen Sitz für seine Gläubigen forderte.
(KNA - nkqmn-89-00033)
Stichwort: Konfessionelle Parität im Libanon
Beirut (KNA) Das gegenwärtige politische System im Libanon beruht auf der Aufteilung der Macht unter den verschiedenen konfessionellen Gruppen des Landes. In dem Land gibt es 18 anerkannte Religionsgemeinschaften. So sieht die "konfessionelle Parität" eine gleich starke Vertretung von Muslimen und Christen im Parlament mit je 64 Sitzen vor. Auch die Sitzverteilung innerhalb der Religionsgemeinschaften ist nach einem festgelegten Schlüssel geregelt. Seit einer Neuverteilung nach Beendigung des Bürgerkrieges stellen maronitische Christen 34 der 128 Abgeordneten, sunnitische und schiitische Muslime je 27. Auch die vier höchsten Staatsämter sind Mitgliedern bestimmter religiöser Gruppen vorbehalten. Das Staatsoberhaupt muss maronitischer Christ sein, der Parlamentspräsident schiitischer Muslim. Der Regierungschef ist immer sunnitischer Muslim und der Oberbefehlshaber der Armee ein Christ.
Das System steht in der Kritik, unter anderem weil es nicht mehr der tatsächlichen Bevölkerungszusammensetzung entspricht. Die hat sich unter dem Strich zugunsten der Muslime verändert. Auch verfolgen die verschiedenen christlichen Konfessionen und Gruppierungen verschiedene Ansätze bei der Wahlrechtsreform. Das bisherige Wahlgesetz von 1960 teilt das Land in 26 vorwiegend konfessionell homogene Wahlkreise. Darin bestimmt die demografische Mehrheit, welcher Religionsgemeinschaft die entsprechenden Parlamentssitze zustehen. So gilt beispielsweise für den Wahlkreis Baabda westlich von Beirut, dass die sechs zu wählenden Vertreter sich auf drei christliche Maroniten, zwei Schiiten und einen Drusen aufteilen. Gewählt werden folglich jene drei maronitischen Kandidaten, die die meisten Stimmen auf sich vereinen, sowie die beiden schiitischen und der drusische Kandidat mit den jeweils meisten Stimmen. Eine Kandidatur von Sunniten in diesem Wahlkreis ist ausgeschlossen.
(KNA - nkqmn-89-00025)
Stichwort: Religionen im Libanon
Beirut (KNA) Der Libanon besitzt die vielfältigste religiöse Landschaft im Nahen Osten. 18 Glaubensgemeinschaften sind offiziell anerkannt. Allerdings sind Zahlen schwer zu bestimmen. Die letzte Volkszählung, die auch die Religionszugehörigkeit erfasste, fand 1932 statt. Seitdem haben sich die Bevölkerungsverhältnisse stark verschoben. Wichtige Faktoren dabei waren die Zuwanderung von (mehrheitlich sunnitischen) Palästinensern nach dem israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948 und eine konstante Abwanderung von (häufig hochgebildeten jungen) Christen. Das "World Factbook" des CIA nennt Muslime mit 59,7 Prozent als größte Glaubensrichtung im Libanon. Deren überragende Mehrheit sind zu etwa gleichen Teilen Sunniten und Schiiten; hinzu kommen kleine Gemeinden von Ismailiten und Alawiten. Die Drusen, eine aus dem ismailitischen Islam entstandene Gemeinschaft, machen rund 5 Prozent aus.
Der Anteil der Christen beträgt nach diesen Angaben 39 Prozent; beim Zensus vor 80 Jahren waren es noch 54 Prozent. Stärkste Gruppe mit schätzungsweise 21 Prozent an der Gesamtbevölkerung ist die im Land beheimatete maronitische Kirche. Sie ist mit Rom verbunden, hat aber eine eigene Liturgie in westsyrischer Sprache. An zweiter Stelle stehen Griechisch-Orthodoxe mit etwa 8 Prozent. Den Rest bilden griechisch-katholische Melkiten, Armenisch-Orthodoxe und katholische Armenier, Syrisch-Orthodoxe und Syrisch-Katholische, Assyrer und Chaldäer, Protestanten, Kopten und Römisch-Katholische.
Das Zusammenleben der Religionen ist durchaus sensibel. Im libanesischen Bürgerkrieg (1975-1990) verliefen Konfliktlinien zwischen den Glaubensgruppen. Der Nationalpakt von 1943 sieht vor, dass Christen und Muslime auf Sonderbündnisse mit dem Westen beziehungsweise mit arabischen Staaten verzichten. Öffentliche Ämter müssen ausgewogen verteilt werden. Der Staatspräsident ist stets ein Maronit, der Ministerpräsident ein Sunnit und der Parlamentspräsident ein Schiit.
(KNA - nkqmn-89-00027)
Stichwort: Maroniten
Beirut (KNA) Die Maroniten sind die größte christliche Gemeinschaft im Libanon. Ihren Namen leiten sie von dem Einsiedler Maron ab, der beim nordsyrischen Apameia lebte und laut Überlieferung 410 starb. Zwischen dem Kloster Mar Maron und der byzantinischen Reichskirche kam es im 7. Jahrhundert zu dogmatischen Spannungen. Zum Bruch mit Konstantinopel kam es 745 im Streit um die Einsetzung eines Patriarchen von Antiochien. Zu dieser Zeit hatten die Maroniten bereits einen eigenen Patriarchen gewählt. Die Tradition nennt ihn Johannes Maron. Während der Kreuzzüge im 11. Jahrhundert unterstützten die Maroniten im libanesischen Bergland die westlichen Heere, die sie als Befreier von Seldschuken und Fatimiden begrüßten. 1182 wurde ihre Einheit mit dem Papst offiziell bestätigt. Eine Trennung von Rom hat aus Sicht der maronitischen Kirche im Unterschied zu anderen unierten Ostkirchen nie bestanden.
Die Maroniten haben eine eigene Liturgie in altsyrischer Sprache. Ihr Patriarch wird von den Bischöfen mit Zweidrittelmehrheit gewählt und vom Papst bestätigt. Nach Angaben des Vatikan gibt es weltweit rund 3,1 Millionen Maroniten. Zu ihrer Zahl im Libanon fehlen verlässliche Quellen; die letzte Volkszählung fand 1932 statt. Die Schätzungen schwanken stark: zwischen 21 Prozent und 40 Prozent bei einer Gesamtbevölkerung von 4,1 Millionen. Auch in Syrien und auf Zypern leben Maroniten. Starke Migrantengemeinden existieren in Argentinien (700.000) und Brasilien (500.000). Nach einer Übereinkunft bei der libanesischen Unabhängigkeit 1943 stellen die Maroniten stets den Staatspräsidenten. Durch die enge Verbindung von Religion und Politik ist das Amt des maronitischen Patriarchen auch politisch von großer Bedeutung.
(KNA - nkqmn-89-00028)
Auf unserer Hauptseite finden Sie weitere Informationen zu den Themen interreligiöser Dialog und christlich islamischer Dialog.