Die Islamwissenschaftlerin Angelika Neuwirth wird 70
KNA 04.11.2013
Von Christoph Scholz (KNA)
Berlin (KNA) Für die Arabistin und Islamwissenschaftlerin Angelika Neuwirth war es wohl eine besondere Ehre, dass der Schriftsteller Navid Kermani allen "rechtgläubigen" Muslimen empfahl, sie zu lesen. Denn was die am Montag vor 70 Jahren in Nienburg an der Weser geborene Wissenschaftlerin auszeichnet, ist nicht nur Forscher-Akribie, sondern auch der tiefe Respekt vor dem Forschungsgegenstand. Neuwirth genießt als Wissenschaftlerin höchstes Ansehen und wird zugleich als Vermittlerin zwischen den Kulturen geschätzt und geehrt.
Als "Brückenbauerin zwischen Ost und West" erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Katholischen Theologischen Fakultät der Universität Bamberg. Dabei geht es ihr in der Koranforschung eigentlich gar nicht um eine Brücke zwischen Orient und Okzident, sondern um die Aufdeckung der gemeinsamen Wurzeln. Sie versucht, den Koran in eine "gemeinsame europäische-nahöstliche Spätantike" einzuordnen.
Damit stellt sie das traditionelle islamische Geschichtsverständnis in Frage, wonach sich mit dem Propheten Mohammed ein voraussetzungsloser Neuanfang in der Geschichte vollzieht. Neuwirth wirbt für eine Neulektüre des Koran. Er sei - historisch gesehen - "ein noch nicht muslimischer Text, der sich an vorislamische spätantike Hörer wandte, die Antworten auf ihre noch nicht islamischen Fragen erwarteten".
Demnach gibt das Buch auch kein göttliches Diktat wieder, sondern ein lebendiges Gespräch zwischen dem - nach muslimischer Überzeugung göttlich inspirierten - Propheten und seinen Gesprächspartnern, die ganz in der jüdisch-christlichen Gedankenwelt ihrer Zeit eingebettet sind. Neuwirth verlangt dabei aber zugleich, dass "wir uns von unserem stereotypen Europabild verabschieden". Denn nach ihrer Überzeugung ist der Koran damit auch ein "europäischer Text". Er ist Teil der Spätantike als gemeinsames Erbe, das christliche und jüdische Europäer mit Muslimen teilen.
Um diese Forschung am Text zu vertiefen, rief sie 2007 das "Corpus Coranicum"-Projekt ins Leben, das derzeit im Rahmen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften eine umfassende historisch-kritische Edition des Koran erarbeitet.
Weshalb aber Kermanis Lektüreempfehlung an gläubige Muslime bei der Verleihung des Sigmund-Freud-Preises 2013 im Juni an Neuwirth? Weil die Koran-Expertin mit ihrer Interpretation den sakralen Charakter des Textes neu ins Licht rückt - zumal er eigentlich vorzutragen und nicht leise zu lesen ist.
Ferner erweist sich die Schrift aus diesem dialogischen Verständnis heraus nicht mehr als chaotische Vers-Anhäufung, sondern als literarisch-formale Einheit. Neuwirth wies dies bereits in ihrem ersten großen Werk über die Komposition der mekkanischen Suren nach. Schließlich widerspricht sie unter Verweis auf die philologische Forschung jenen Wissenschaftlern, die die historische Existenz des Propheten bestreiten und von einem Autorenkollektiv ausgehen. Sie halte nichts "von der Wiederbelebung historischer Textkriege", bekannte Neuwirth. Statt Polemik sucht sie den Austausch mit islamischen Korangelehrten und gilt ihnen als geschätzte Gesprächspartnerin.
Neuwirth hat sich ein dichtes Netzwerk in aller Welt aufgebaut: Nach dem Studium der Arabistik, Semitistik und Klassischen Philologie an der Freien Universität Berlin (FU) sowie in Teheran, Göttingen, Jerusalem und München übernahm sie unter anderem Professuren in Amman, Kairo und Jerusalem. Von 1981 bis 1983 leitete sie eine Sektion an der Royal Academy for Islamic Civilization in Amman und von 1994 bis 1999 war sie zudem Direktorin des Orient-Instituts der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft in Beirut und Istanbul.
Seit 1991 ist Neuwirth Lehrstuhlinhaberin an der FU Berlin. Dort lehrt sie weiterhin neben der Koranexegese moderne arabische Literatur der Levante, palästinensische Dichtung sowie Literatur des israelisch-palästinensischen Konflikts.
(KNA - nlknl-89-00125)
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