Tiefe Gräben zwischen Sunniten und Aleviten
KNA 11.09.2013
Von Susanne Güsten (KNA)
Istanbul (KNA) Ein Projekt für Religionsfrieden löst in der Türkei heftige Debatten bis hin zu Straßenkämpfen aus - und illustriert damit, wie verworren die religiösen Verhältnisse in Anatolien sind. Dabei geht es nicht um die schwierigen Beziehungen zwischen der muslimischen Mehrheit und den christlichen Minderheiten, den Juden oder den Jesiden. Es geht um das seit Jahrhunderten gespannte Verhältnis zwischen der sunnitischen Mehrheit der türkischen Muslime und den Aleviten, einer muslimischen Minderheit von bis zu 25 Millionen Menschen.
Der Grundstein wurde am vergangenen Sonntag in Ankara gelegt: In einem gemeinsamen Komplex sollen eine sunnitische Moschee und ein alevitisches Gotteshaus, ein sogenanntes Cemevi, errichtet werden. Das Bauprojekt, das erste seiner Art, geht auf einen Vorschlag des sunnitischen Predigers Fetullah Gülen zurück, dessen einflussreiche Gülenci-Bewegung den Bau finanziert. Betrieben wird es von der Gülen-Gruppierung und der Cem-Stiftung, einem führenden Alevitenverband, und dessen Vorsitzendem Izzettin Dogan.
"Moschee und Cemevi sind keine Rivalen, sie sind Brüder", sagte Arbeitsminister Faruk Celik als Festredner bei der Grundsteinlegung. "Ich bin überzeugt davon, dass dieses Projekt zum Abbau der Vorurteile in unserer Gesellschaft beitragen wird."
Dies ist die erklärte Absicht des Vorhabens, das nach den Worten von Dogan und Gülen Gräben zwischen Sunniten und Aleviten überwinden soll. Diese sind ebenso tief wie alt: Schon zu Zeiten desOsmanischen Reiches wurden die Aleviten in ihrer anatolischen Heimat verfolgt. Ihr Los besserte sich auch mit der Gründung der Türkischen Republik nicht.
Bis heute werden die Aleviten vom türkischen Staat als sunnitische Muslime registriert und so behandelt. Ihre Geistlichen und ihre Gotteshäuser, die Cemevleri, werden vom staatlichen Religionsamt nicht anerkannt und unterstützt, obwohl das Amt sunnitische Moscheen, Muezzine und Imame finanziert. Besserung stellte erst ein vor zehn Tagen vorgelegter Reformvorschlag des Religionsamtes in Aussicht, wonach die Aleviten gleichberechtigt und ihre Gotteshäuser anerkannt werden sollen.
Das sunnitisch-alevitische Gemeinschaftsprojekt begrüßen daher viele Aleviten. Gülen habe den Aleviten aufrichtig die Hand zur Freundschaft gereicht, sagte der Alevitenfunktionär Özdemir der Zeitung "Radikal". Das Projekt sei ein Schritt hin zur gesellschaftlichen Anerkennung der alevitischen Gotteshäuser, lobte auch der Vorsitzende der alevitischen Haci-Bektasi-Kultur-Stiftung, Kemal Kaya.
Andere Aleviten verurteilen das Vorhaben dagegen als Versuch der Vereinnahmung durch die Gülen-Bewegung. "Wie sollen wir in einem Gebäude beten, das von dieser Sekte bezahlt wurde", sagte Hüseyin Tastekin vom Vorstand des alevitischen Sah-Kulu-Sultan-Vereins über die Gülen-Bewegung. "Dies ist ein Assimilationsprojekt", kritisierte Ercan Gecmez, Vorsitzender eines weiteren Alevitenvereins.
So erhitzt wird die Debatte geführt, dass es bei verbalen Auseinandersetzungen nicht geblieben ist. Schon am Vorabend der Grundsteinlegung flogen in Ankara die Steine; am Rande der Zeremonie gingen Hunderte Demonstranten auf die Barrikaden und lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. Seit Wochenbeginn griffen die Proteste auch auf andere Städte über, darunter Istanbul und Izmir. "Dies ist eine schmutzige Verschwörung und ein Projekt zur Assimilation der Aleviten", rief ein Demonstrant.
Die Betreiber des Projekts reagieren entsetzt. "Das sind weder echte Aleviten noch Sunniten, sondern Außenseiter, die uns spalten wollen", sagte Dogan über die Demonstranten. Die Proteste würden von linksradikalen Gruppen betrieben, kommentierte die Zeitung "Zaman", die der Gülen-Bewegung nahesteht.
Der Verweis auf Provokation durch extremistische Gruppierungen sei zu einfach, entgegnete Orhan Kemal Cengiz, ein Aktivist für den Religionsfrieden, in derselben Zeitung: "Manche Wunden in der Türkei sind so tief, dass selbst ein Versuch zur Heilung von manchen Teilen der Gesellschaft als unerträglich empfunden wird."
(KNA - nktll-89-00035)
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