Vor 75 Jahren starb Mustafa Kemal, genannt Atatürk
KNA 07.11.2013
Von Christoph Schmidt (KNA)
Bonn/Ankara (KNA) Punkt fünf nach neun werden am Sonntagmorgen die Schiffssirenen im Hafen von Istanbul über den Bosporus dröhnen. Der Verkehr in Ankara, Izmir oder Konya steht dann still, und die Menschen verharren vor seinen allgegenwärtigen Porträts, seinen Statuen und Büsten. Die Türkei begeht den 75. Todestag ihres Staatsgründers Mustafa Kemal (1881-1938). Schon zu Lebzeiten gaben sie ihm den Namen Atatürk, "Vater der Türken", weil er sie erst vor fremden Invasoren gerettet und dann neu erfunden hat. Er führte das Land auf den langen Weg nach Westen - doch heute spaltet sein säkulares Erbe die Gesellschaft. Der politische Islam ist zurück.
Den Aufstieg verdankte der Sohn eines Zollbeamten seiner Intelligenz und der Armee, während das Osmanische Reich vom Balkan bis zum Persischen Golf dahinsiechte. Schon damals favorisierte der aufklärungsbegeisterte Kemal, von dem es hieß, er sei Freimaurer, einen türkisch-anatolischen Nationalstaat ohne arabische Gebiete.
An Eroberungen war er nie interessiert. Dass die sogenannten Jungtürken die Türkei an der Seite Deutschlands in den Ersten Weltkrieg trieben, missbilligte der Divisionskommandeur. Ironischerweise wurde er dann der letzte große Kriegsheld der osmanischen Geschichte. Sein Sieg über Engländer und Franzosen auf der Halbinsel Gallipoli 1915 bescherten dem General immenses Prestige und dem Reich drei Jahre Aufschub. Über den damals beginnenden Völkermord an den Armeniern äußerte er sich später kritisch.
Kemals eigentliche Stunde schlug nach der Niederlage, als Griechen, Armenier, Italiener und Franzosen fast ganz Anatolien unter sich aufteilten. Dem willfährigen Sultan kündigte er den Gehorsam und organisierte den militärischen Widerstand. Dass es bei den Kämpfen auch zu Massakern an Zehntausenden Griechen und Armeniern kam - von denen Kemal zumindest gewusst haben muss - verschweigt die Atatürk-Legende bis heute.
Schließlich mussten die Alliierten die Unabhängigkeit der Türkei in den heutigen Grenzen anerkennen. Atatürk wurde 1923 erster Präsident der neuen türkischen Republik. Seine Staatsdoktrin: westliche Moderne im Zeichen des Nationalismus. Der Gegner stand für ihn fest: "Der Islam, diese Gotteslehre eines unmoralischen Beduinen, ist ein verwesender Kadaver, der unser Leben vergiftet." Nur die radikale Trennung von Staat und Religion ermögliche Fortschritt, war er überzeugt.
Nie in der Geschichte wurde eine islamische Gesellschaft derart radikal umgekrempelt wie die türkische in den folgenden 15 Jahren. Den Sultan schickte Atatürk ins Exil; Scharia und Kalifat schaffte er ab und führte europäische Gesetzbücher ein. Religiöse Schulen wurden geschlossen, die mächtigen islamischen Bruderschaften verboten. Seinem Volk verordnete er europäische Kleidung und das lateinische Alphabet. Für die Kameras zog er selbst mit der Schiefertafel über die Dörfer. Den Schleier verbannte er aus der Öffentlichkeit und gab den Frauen gleiche Rechte. "Alles was auf der Welt entsteht, ist das Werk von Frauen", soll er einmal gesagt haben.
Die Kehrseite des Kemalismus waren ein hemmungsloser Personenkult, ein brutales Vorgehen gegen Kritiker und aufmüpfige Minderheiten wie die Kurden, eine scheindemokratisch legitimierte Autokratie und die Rolle der Armee, die sich als Erbe der Macht und Wächter über das Erbe Atatürks begriff. Als der 57-Jährige, der auch als Lebemann zu Extremen neigte, mit 57 Jahren an Leberzirrhose starb, hinterließ er eine Türkei, deren islamisches Fundament für immer vergangen schien.
Seit den 1980er Jahren kehrt jedoch die Religion zurück, massiv sogar unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seiner AK-Partei mit ihrer Massengefolgschaft im Mittelstand. Sie machen kein Hehl aus ihrer Verachtung für den "Vater der Türken" und seine säkularen Ideen. Vor einigen Tagen durften erstmals weibliche Abgeordnete verschleiert im türkischen Parlament auftreten. Auch wenn auf Beleidigung Atatürks immer noch Haftstrafen stehen: Die Türkei steht am Scheideweg zwischen westlicher Moderne und islamischer Tradition. Schiffssirenen werden das am Sonntag nicht übertönen können.
(KNA - nllkr-89-00012)
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