Die Islamisten von Boko Haram halten das Land im Würgegriff
KNA 23.12.2014
Von Katrin Gänsler und Alexander Brüggemann (KNA)
Abuja/Bonn (KNA) Während in Deutschland und anderswo Christen den Heiligabend feiern und sich die Familien unter dem Weihnachtsbaum versammeln, blicken die Menschen in Nigeria ungewissen Tagen entgegen. Fast täglich gibt es Nachrichten über Bombenattentate in Städten, Überfälle auf Dörfer. Anschläge auf Kirchen zu Weihnachten sind kein unwahrscheinliches Szenario. Die islamistische Terrorgruppe Boko Haram hat Nigeria sein blutigstes Jahr seit der Militärdiktatur von Sani Abacha (1993-1998) beschert. Tausende unschuldige Menschen mussten sterben.
Immer weniger Hoffnung richtet sich auf die Zentralregierung in Abuja von Staatspräsident Goodluck Jonathan, die außer leerer Versprechungen wenig bei der Terrorbekämpfung aufzuweisen hat. Ein angekündigter Waffenstillstand mit Boko Haram: Fehlanzeige. Eine Rettung der seit April entführten 219 Mädchen von Chibok: offenbar in weiter Ferne. Im Gegenteil: Zehntausende Nigerianer sind auf der Flucht, weil Boko Haram immer weitere Gebiete im Norden erobert, etwa den krisengebeutelten Bundesstaat Borno. Gegenwehr der regulären Armee: Fehlanzeige.
Viele tausend Flüchtlinge aus Borno leben mittlerweile im südlichen Nachbarbundesstaat Adamawa. Doch auch der weiß inzwischen nicht mehr wohin mit den Binnenvertriebenen, nachdem Boko Haram im November die Stadt Mubi sowie die angrenzende Region besetzte. Von dort heißt es inzwischen, Mubi solle künftig "Madinatul Islam" (Stadt des Islam) genannt werden.
Die staatliche Nothilfeagentur NEMA geht davon aus, dass rund 700.000 Nigerianer ihre Heimatdörfer im Nordosten verlassen haben. Beobachter sprechen von noch weitaus höheren Zahlen. Nach wie vor kommen viele bei Familienmitgliedern unter oder mieten sich Zimmer, etwa in der Hauptstadt Abuja. Weitere haben in den Nachbarländern Niger und Kamerun Zuflucht gefunden.
Die Flüchtlingszahlen könnten schnell weiter steigen, wenn die Regierung in Abuja nicht mehr erreicht im Kampf gegen Boko Haram. Bald schon könnten die drei am meisten betroffenen Bundesstaaten Borno, Yobe und Adamawa besetzt sein.
Chibok, ein Städtchen im Bundesstaat Borno, erlangte im April traurige Berühmtheit, als knapp 300 Schülerinnen entführt wurden, während sie gerade ihre Abschlussprüfungen schrieben. 219 von ihnen befinden sich bis heute in der Gewalt der Terroristen. Bekannt wurde der Vorfall vor allem durch die Twitter-Kampagne #BringBackOurGirls, an der sich anfangs Prominente wie Carla Bruni oder Michelle Obama beteiligten. Angehörige und Aktivisten treffen sich bis heute täglich in Abuja, um Druck auf die Regierung auszuüben - doch vergeblich. Diese hatte in den vergangenen Monaten immer wieder versprochen, die Mädchen "zeitnah" zu befreien.
Angriffe auf sogenannte weiche Ziele wie Dörfer, Märkte, Kirchen und Schulen gehören mittlerweile zur Strategie der Terrorgruppe. Gerade in ländlichen Regionen sind sie häufig gar nicht geschützt. Doch auch in Städten haben Selbstmordattentäter ein leichtes Spiel. Vielerorts müssen Schulen schließen, weil sie nicht mehr den Schutz ihrer Schüler gewährleisten können. Bildung ist zu einem Risiko geworden, das schwerer zu wiegen droht als die Zukunftschancen.
Genau das steht im Kern der "Botschaft" von Boko Haram. Der landläufige Name der Terrorgruppe stammt aus der Sprache Haussa, der größten Verkehrssprache im Norden Nigerias, und bedeutet übersetzt so viel wie: "Westliche Bildung ist Sünde". Wer Schulen mit einer westlichen Bildungsagenda besucht, versündigt sich und hat eine vermeintlich gerechte Bestrafung zu gewärtigen: Tod, Entführung, Misshandlung.
Nigeria ist mit rund 152 Millionen Menschen der bevölkerungsreichste Staat Afrikas. Wenn dort ganze Landesteile in die Hände von Islamisten gelangen, kann das den Westen nicht kaltlassen, schon aus geostrategischen Gründen. Von den toten, verletzten und ihrer Würde beraubten Menschen ganz zu schweigen - und von Kindern, die Angst haben müssen, zur Schule zu gehen.
(KNA - olmmn-89-00061)
Religion in Nigeria
Abuja (KNA) Nigeria ist mit nach aktuellen Schätzungen rund 155 Millionen Einwohnern der bevölkerungsreichste Staat Afrikas. Über die Hälfte von ihnen bekennt sich zum Islam; vor allem der Norden ist fast ausschließlich islamisch geprägt. In Nigeria lebt damit eine der größten muslimischen Gemeinschaften Westafrikas. Die meisten hängen der sunnitischen Lehre an; im nordwestlichen Bundesstaat Sokoto erreichen die Schiiten einen beträchtlichen Anteil.
Seit den 1970er Jahren entstanden mehrere radikale islamische Sondergemeinschaften um charismatische Persönlichkeiten, so die Maitatsine-Bewegung, Darul Islam um Amrul Bashir Abdullahi und die von Mohammed Yusuf gegründete Gruppe Boko Haram. Schon in den 1980er Jahren kam es in mehreren Städten zu Gewalt mit religiösem Hintergrund. Zwölf Bundesstaaten im Norden führten 1999 die Scharia ein, das islamische Strafrecht.
Der Anteil der Christen in Nigeria wird mit 40, teils mit über 48 Prozent angegeben. Fest steht: Die christliche Gemeinschaft nahm in den vergangenen fünf Jahrzehnten stark zu und ist die größte auf dem afrikanischen Kontinent. Katholiken machen laut vatikanischen Zahlen gut 15 Prozent aus; sie sind in 50 (Erz-)Bistümern und zwei Apostolischen Vikariaten organisiert. Andere starke Gruppen bilden die protestantischen Kirchen und die anglikanische Kirche.
Angesichts von Ausschreitungen und Übergriffen vor allem in den ethnisch und religiös gemischten Zonen Zentralnigerias mahnten Bischöfe und Experten, ethnisch-soziale Ursachen nicht mit religiösen zu verwechseln. Gegen den wachsenden islamistischen Terror im Norden sprechen sich regelmäßig auch die religiösen Führer des gemäßigten Islam aus.
(KNA - olmmn-89-00062)
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