Zum Weltflüchtlingstag: Nigerias vergessene Binnenflüchtlinge

KNA 20.06.2014
Von Katrin Gänsler (KNA)
Abuja (KNA) Mohammed Ali wartet ein paar hundert Meter von seinem Haus entfernt. Das ist nur zu Fuß erreichbar. Die kleinen Gassen dorthin sind schmal und nach dem letzten Regen schlammig. Beißender Uringeruch steigt in die Nase. Eine Kanalisation gibt es nicht. Dabei ist das Viertel ein Vorort der nigerianischen Hauptstadt Abuja. Abuja ist auf dem Reißbrett entstanden und versetzt Besucher, die zum ersten Mal in Nigeria sind, in Staunen. Die Stadt wirkt mit ihren Hochhäusern, Bürogebäuden und der Zentralmoschee modern. Doch in den sogenannten Satellitenstädten fehlt es wie in ländlichen Regionen an allem: Es gibt kein Wasser, keine Müllabfuhr. Strom ist ein seltenes Gut.
Es sind jene Viertel, in die seit Monaten Menschen aus dem Norden Nigerias, vor allem aus dem Bundesstaat Borno, drängen. Sie haben Angst vor neuen Anschlägen von Boko Haram. Wie viele es tatsächlich sind, lässt sich nur schwer sagen. Die staatliche Nothilfe-Agentur NEMA geht von mindestens 250.000 aus, die alleine aufgrund des islamistischen Terrors in sicherere Gebiete geflohen sind. Das Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC), Teil der nichtstaatlichen Hilfsorganisation Norwegian Refugee Council, geht mittlerweile von mehr als 3,3 Millionen Binnenflüchtlingen aus. Was die Statistiken schwierig macht: Es gibt keine offizielle Erfassung der Binnenflüchtlinge, auch keine staatliche Hilfe.
Mohammed Ali, der seinen richtigen Namen aus Angst nicht nennen möchte, öffnet das quietschende Tor zu seinem Haus. Auf dem kleinen Hof sitzen mehrere Frauen im Schatten und waschen Wäsche. Ein sechsjähriges Mädchen versucht, ein schreiendes Baby zu beruhigen. Ali bittet in sein Haus.
Das besteht aus drei aneinandergereihten Schlafzimmern. Er lässt sich auf ein großes Bett fallen. Auf dem Boden stapeln sich Kleider und Kochgeschirr. "Drei solcher Zimmer haben wir für 17 Menschen", sagt er und zählt auf: "zwei Männer, drei Frauen und dann noch elf Kinder". Doch der Vermieter hat zum Monatsende gekündigt: Eigenbedarf. "Es geht ihm nicht mal um das Geld, sondern um den Platz", sagt Ali. Noch weiß er nicht, wohin er mit seiner Familie ziehen soll. Ohnehin sind bezahlbare Unterkünfte Mangelware in Abuja. Seit dem Zustrom der Binnenflüchtlinge hat sich die Lage noch einmal verschärft.
Mohammed Ali nimmt den Namen Boko Haram nicht gerne in den Mund. Doch die anhaltende Gewalt der Terroristen war es, weshalb er schließlich den Großteil seiner Familie nach Abuja holte. Er selbst lebte schon vorher in der Hauptstadt und arbeitete als Taxifahrer. An ein Leben als Landwirt, sein eigentlicher Beruf, ist in seiner Heimat nicht mehr zu denken. Schon vor der neuen Gewaltwelle galt die Umgebung als viel zu unsicher, um überhaupt noch auf die Felder zu gehen. Das macht das Überleben in der Hauptstadt doppelt schwer: Den meisten Binnenflüchtlingen fehlt eine Berufsausbildung. Einen Job zu bekommen, ist unmöglich.
Auch Alis Dorf wurde mehrfach überfallen. Beim ersten Mal, so erzählt er, seien nur wenige Terroristen gekommen. Einige junge Männer wehrten den Angriff einigermaßen erfolgreich ab. "Doch dann kamen sie wieder und brannten viele Häuser nieder." Neben ihm auf dem Fußboden sitzt sein Sohn Abu. Auch er gehörte damals zu denen, die Widerstand leisteten. Noch immer hat die Familie deshalb Angst vor Rache, sogar viele hundert Kilometer weiter südlich. "Meine Eltern sind noch in Borno. Und sie könnten umgebracht werden."
Doch aus seiner Sicht bringt nicht nur Boko Haram Gefahr, sondern auch ganz normale bewaffnete Räuber und Strauchdiebe sowie die Armee. "Das Problem ist: Wenn die Soldaten in einem Dorf nach Boko-Haram-Mitgliedern suchen, stellen sie keine Nachforschungen an, sondern schießen einfach los."
Mohammed Ali schweigt einen Moment und scheucht die schwarz-weiße Katze weg, die um seine Beine streichen will. Auf die Frage, was er sich am meisten wünscht, sagt er schließlich: "Wir wollen einfach nur zurück nach Borno. Das Leben war gut, das Essen günstig." Doch wann das so weit ist, weiß er nicht: "Wenn es dort wieder sicher wäre, würde ich morgen gehen."
(KNA - okqlt-89-00080)

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