Nigerias Kardinal Onaiyekan: Entführte Mädchen nicht vergessen
KNA 27.08.2014
Von Katrin Gänsler (KNA)
Abuja (KNA) Die Gewaltspirale in Nordnigeria nimmt kein Ende. Besonders brutal geht Boko Haram seit Wochen rund um die Stadt Gwoza vor, die sie zum islamischen Kalifat erklärt hat. Durch diese Entwicklung verliere die Regierung immer weiter an Vertrauen, beklagt am Mittwoch der katholische Erzbischof von Abuja, Kardinal John Onaiyekan, im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
KNA: Die Terrorgruppe Boko Haram hat die Stadt Gwoza im Norden Nigerias besetzt und dort das Kalifat ausgerufen. Zur gleichen Zeit fließen angeblich sehr viel Staatsgelder in den Verteidigungsetat. Warum ist es so schwierig, Boko Haram zu bekämpfen?
Onaiyekan: Ganz ehrlich - ich verstehe es nicht. Bis heute sieht es so aus, dass Boko Haram weiter an Boden gewinnt. Obwohl der Ausnahmezustand verhängt wurde und die Region unter direkter Kontrolle der Sicherheitsdienste steht. Gleichzeitig wurden große Summen für Ausrüstung, Training und die Beschaffung von Informationen zur Verfügung gestellt. Das betrifft den traditionellen Weg, also Gespräche mit Menschen vor Ort. Aber wir sollten auch in der Lage sein, moderne Technologien zur Informationsbeschaffung zu kaufen. Sicher bin ich nicht der einzige Nigerianer, der sich fragt: Was passiert dort überhaupt?
KNA: Dabei betont die Regierung gern, dass Boko Haram bald der Vergangenheit angehöre.
Onaiyekan: Die Regierung sagt, sie gebe ihr Bestes. Wenn das das Beste ist, dann ist es nicht ausreichend. Wir können uns nicht auf die Versprechen verlassen. Bestes Beispiel sind die 200 entführten Schülerinnen von Chibok. Wir hören nichts mehr von ihnen. Dabei bin ich sicher, dass mittlerweile weitere Mädchen und Jungen entführt wurden. Die Menschen glauben längst nicht mehr, alles sei in Ordnung.
KNA: Gibt es überhaupt noch Vertrauen in die Regierung?
Onaiyekan: Ihre Aussagen überzeugen oft nicht. Sogar für uns Nigerianer sind sie nicht überzeugend - über Ausländer spreche ich erst gar nicht. Die Glaubwürdigkeit der Regierung sinkt weiter.
KNA: Was heißt das konkret für die Menschen im Norden?
Onaiyekan: Für sie ist es eine Frage von Leben und Tod. Wenn die Regierung sagt, man sei sicher, dann erwartet man das doch auch. Wenn aber Boko Haram weitermacht mit ihrem Terror, dann kann man die Aussagen der Regierung bald nicht mehr hören. Die Menschen müssen allein einen Weg finden, um zu überleben. Mich wundert es deshalb nicht, wenn gerade Muslime sich Boko Haram anschließen. KNA: Wie meinen Sie das?
Onaiyekan: Von Anfang hat sich Boko Haram als eine achtbare islamische Organisation präsentiert. Sie hat viele Unterstützer, Prediger beispielsweise, die genau so sprechen wie sie. Viele derjenigen, die heute der Führungsebene angehören, haben sehr offen in den Moscheen gepredigt. In den vergangenen Jahren haben sich vor allem Christen immer wieder über Hasspredigten beklagt. Durch dieses Umfeld konnte Boko Haram entstehen. Aber die Regierung hat sich nicht genug bemüht, dieses Problem anzugehen.
KNA: Die Regierung steht ständig in der Kritik im Umgang mit der Terrorgruppe. Welche Position bezieht die Opposition?
Onaiyekan: Die Regierung sagt ständig, die Opposition stecke hinter Boko Haram und sei das eigentliche politische Gesicht der Gruppe. Handfeste Beweise dafür fehlen. Und hilfreich sind solche Anschuldigungen ohnehin nicht. Die Opposition wiederum hat oft gesagt, die Regierung könne Boko Haram gar nicht bekämpfen, weil sie korrupt sei und in einer nicht freien und fairen Wahl an die Macht gekommen. Daher dürfe niemand überrascht sein, dass das Problem Boko Haram nicht in Griff zu bekommen sei. Eine solche Rede mag in Ordnung sein, um sich selbst zu positionieren. Boko Haram ist allerdings Nutznießer dieser politischen Frontstellung - und wächst weiter.
KNA: Sie sind mit dem Sultan von Sokoto befreundet und stehen gemeinsam für den interreligiösen Dialog. Aber wie viel Einfluss haben traditionelle Herrscher wie der Sultan oder die Emire im Norden noch auf junge Menschen?
Onaiyekan: Der muslimische Norden ist ein Mythos. Es gibt zwar eine große Gruppe von einflussreichen Menschen, die den Sultan und die Emire akzeptiert, die ja auch einflussreiche Positionen bekleiden. Tatsächlich kann man sagen: Im Norden kann man nicht viel erreichen, wenn man sich gegen den Sultan ausspricht. Boko Haram wiederum lehnt das völlig ab - und viele junge Menschen, die gegen das Establishment sind, auch. Sie planen zwar keine Anschläge, gehen aber mit dem einher, was Boko Haram sagt.
KNA: Als Kardinal sind Sie häufig im Vatikan. Dort werden Sie sicher oft auf die Entwicklung in Nigeria angesprochen?
Onaiyekan: Natürlich. Wir, die wir aus Nigeria stammen und das Land lieben, sind sehr beschämt. Wir können nicht mal eine vernünftige Antwort auf viele Fragen geben. Häufig muss ich sagen: Auch ich verstehe nicht, was hier passiert. Ich wünsche mir nicht, dass mein Land so ist.
(KNA - oksmr-89-00115)
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