Leben zwischen bröckelnden Fassaden und Rekordmoschee
KNA 18.02.2014
Leben zwischen bröckelnden Fassaden und Rekordmoschee
Phoenix zeigt Dokumentation über Algeriens Hauptstadt Algier
Von Joachim Heinz (KNA)
Bonn (KNA) Libyen unternimmt die ersten Schritte hin zu einer neuen Verfassung, Tunesien hat sie schon. In Ägypten gibt es vielleicht bald einen neuen Präsidenten und jede Menge Ärger mit den islamistischen Anhängern des alten Amtsinhabers. Drei Jahre nach Beginn des "Arabischen Frühlings" ist die Staatenwelt Nordafrikas weiter in Bewegung. Nur aus Marokko und Algerien ist hierzu-lande wenig zu sehen und zu hören. Edith Lange hat sich aufgemacht, das zu ändern. Für ihre Reportage "Algier - Schön, schräg, schonungslos" traf sie sich mit prominenten und weniger prominenten Bewohnern der algerischen Hauptstadt. Phoenix zeigt den Beitrag erstmalig am Mittwoch um 21.45 Uhr.
Langes halbstündiges Porträt der "weißen Perle am Mittelmeer" verspricht mehr Erkenntnisse, als manche Expertenrunde zu den Umbrüchen in der Region. Ein Grund dafür sind die von der Journalistin ausgewählten Gesprächspartner. Den Anfang macht die junge Konzeptkünstlerin Amina Menia, die ihre Heimatstadt liebt, deren Horizont aber nicht am Strand von Algier endet. Einen Kulturkampf zwischen konservativen muslimischen Kreisen und eher westlich eingestellten Bewohnern der einstigen französischen Kolonialmetropole sieht sie nicht. Stattdessen lautet ihr Credo: "Die Freiheit muss man jeden Tag neu verhandeln."
Ähnlich sieht es Adlene Meddi, Chefredakteur der Zeitung "El Watan Weekend", die mit einer Auflage von 550.000 Exemplaren zu den wichtigsten unabhängigen Stimmen im Land gehört. Meddi sieht die islamistischen Strömungen in seiner Heimat als "Begleiterscheinung" der Globalisierung - so wie in Europa manche Stimmen die Zeit der Nationalstaaten verklärten. Zugleich aber werde im Islam "wie nie zuvor" über strittige Themen wie das Verhältnis von Religion und Sexualität oder die Rolle der Frau diskutiert.
Die lebendige Debattenkultur macht Algerien aus Sicht Meddis zu einem echten "Paradies" für Jour-nalisten. Immer mehr Kollegen kämen deswegen zurück. Auch wenn Präsident Abd al-Aziz Bouteflika mit Gesetzen spiele "wie ein verwöhntes Kind". Und, wie Filmemacherin Lange hinzufügt, die Folgen des Bürgerkriegs von 1991 bis 2002 immer noch nachwirken. Nachts scheinen die Straßen Algiers wie ausgestorben - Erinnerungen an die seinerzeit gültigen Ausgangssperren. Tagsüber aber pulsiert das Leben in den Gassen der Altstadt, der Kasbah, und auf den von den Franzosen angelegten Boulevards.
Die dazugehörigen prächtigen Häuser aus der von 1830 bis 1962 währenden Kolonialepoche haben längst die Einheimischen erobert. Rund 6 Millionen Menschen leben inzwischen in der Hafenstadt und deren Umland. Auf den Straßen stauen sich die Blechkarawanen - bei einem Spritpreis von um-gerechnet 25 Cent kein Wunder. Den Schriftsteller Boualem Sansal treibt angesichts des stürmi-schen Wachstums die Sorge um, dass das Bewusstsein für die gemeinsame Geschichte unter die Räder kommen könnte. Vor dem Haus, in dem Sansals berühmter Kollege Albert Camus (1913-1960) aufwuchs, spricht er ein paar Jugendliche auf die Person des Nobelpreisträgers an. Doch die können mit dem Namen nichts anfangen.
Wenige Kilometer entfernt wächst Algiers derzeit bedeutendstes Zukunftsprojekt in den Himmel. Im Jahr 2016 sollen die Bauarbeiten zur "Grand Mosquee de l'Algerie" mit angeschlossenem Kultur- und Geschäftsviertel abgeschlossen sein. Dann wird die drittgrößte Moschee der Welt in den Dienst gehen und das 265 Meter hohe Minarett das höchste Bauwerk in ganz Afrika sein. Rund fünf Milliarden Euro hat der Staat für das Prestigeprojekt in die Hand genommen. Ausführende sind zum einen das Frankfurter Architektenbüro KSP - Jürgen Engel und eine chinesische Baufirma. Ein kultureller Crashkurs der besonderen Art. Zugleich ein Experiment mit offenem Ausgang. Für welche Spielart des Islam wird das Gotteshaus einst stehen? Langes Film verzichtet auf belehrende Schlüsse, zeigt stattdessen Modelle der Moschee. Ob der betonglatte Renommierbau nun schöner ist als die bröckelnden Fassaden der Altbauten von Algier, liegt im Auge des Betrachters.
(KNA - okmls-89-00030)
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