EU-Parlament fordert Anerkennung des Genozids an den Armeniern
KNA 16.04.2015
Von Kerstin Bücker (KNA)
Brüssel (KNA) "Mangel an Menschlichkeit", "Leugnung der europäischen Geschichte" und "endlich Verantwortung übernehmen" - mit deutlichen Worten hat das EU-Parlament in seiner rund dreistündigen Debatte am Mittwoch in Brüssel Druck auf die türkische Regierung ausgeübt. Die Geschehnisse der Vergangenheit müssten anerkannt werden und die Türkei den Völkermord an den Armeniern aufarbeiten, hieß es.
Am Abend wurde im Plenum mit breiter Mehrheit die Resolution "zum europäischen Gedenken an den hundertsten Jahrestag des Völkermords an den Armeniern" angenommen, der am 24. April 2015 begangen wird. An diesem Tag begann im Jahr 1915 die systematische Verfolgung: Zu Tausenden wurde die Elite der Armenier verhaftet und hingerichtet; Zehntausende starben auf Todesmärschen.
Nach den Stellungnahmen der Fraktionen hatten zahlreiche Abgeordnete Redezeit beantragt: Mit großer Mehrheit standen die Abgeordneten hinter der Resolution, die Anerkennung des Genozids stellte niemand direkt infrage. Deutlich wurde vor allem die Kritik am Verhalten der türkischen Regierung und an den Regierungen, die bislang nicht offiziell von einem Genozid sprechen. Mit der Verabschiedung der Resolution versucht das EU-Parlament Druck auf die türkische Regierung auszuüben. Erinnerungen müssten aufrechterhalten werden, um weitere Konflikte zu vermeiden und die Aussöhnung voranzutreiben, hieß es.
Gleichwohl gaben die Abgeordneten zu erkennen, wie wichtig gute Beziehungen zur Türkei sind. Die Entschließung sei keine Aktion gegen das türkische Volk, betonte der SPD-Abgeordnete Arne Lietz. In der Resolution heißt es, man wolle die Türkei ermutigen, den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen und aufzuarbeiten. Die Türkei müsse den Weg frei machen für eine "aufrichtige Aussöhnung zwischen dem türkischen und armenischen Volk".
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte am Mittwoch den Vorwurf des Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich erneut zurückgewiesen und erklärt, dass die moderne Türkei die Armenier im Land gut behandele. Die Türkei lehnt die Einstufung der Armenier-Massaker als Völkermord ab und wirft Armenien vor, den Jahrestag für eine Kampagne zur internationalen Anerkennung des Genozids nutzen zu wollen.
In der Resolution mahnen die Parlamentarier die Türkei, sich die internationalen Beschlüsse und Verträge, insbesondere zur Achtung der Menschenrechte, aber auch die eingegangenen Verpflichtung zu einer objektiven Aufarbeitung der Geschichte bewusst zu machen. Bereits in einer Entschließung vom 18. Juni 1987 hatte das EU-Parlament erklärt, die Verfolgung und Ermordung der Armenier stelle einen Völkermord im Sinne der sogenannten "Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermords" dar.
Der italienische Abgeordnete Mario Borghezio äußerte scharfe Kritik an den Reaktionen des türkischen Präsidenten auf Papst Franziskus. Es stehe der Türkei nicht zu, das Oberhaupt der katholischen Kirche in diesem Maß zu kritisieren, so Borghezio. Der Papst hatte die Verfolgung der Armenier im Osmanischen Reich am Sonntag in einer Gedenkmesse als "ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts" bezeichnet und damit scharfen Protest der Türkei hervorgerufen.
Unter den EU-Mitgliedstaaten gibt es unterschiedliche Sichtweisen auf das Thema. So hat Deutschland den Völkermord bislang nicht anerkannt, während in der Schweiz und in EU-Mitgliedsstaaten wie der Slowakei, Slowenien, Griechenland und Zypern die Leugnung des Genozids unter Strafe steht.
Kritik übten mehrere Parlamentarier auch an der EU-Kommission: "Man muss das Wort Völkermord verwenden, nicht nur das Wort Massaker", sagte die Abgeordnete Michele Rivasi zu der anwesenden EU-Kommissarin Kristalina Georgieva. Diese hatte zu Beginn der Aussprache im Parlament gesagt, eine Aufarbeitung der schrecklichen Ereignisse sei wichtig, damit eine Normalisierung der armenisch-türkisch Beziehungen vorangetrieben werde. Dabei hatte sie jedoch nicht explizit von Völkermord gesprochen.
Die Resolution des EU-Parlaments scheint einen Schritt auf dem Weg zur Bewältigung der gemeinsamen europäischen Geschichte darstellen zu können - die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei werden sich dadurch nicht verbessern.
(KNA - pkolp-89-00163)
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