Experten suchen nach Wegen gegen den digitalen Dschihad
KNA 23.06.2015
Von Paula Konersmann (KNA)
Bonn (KNA) Das Bild ist bekannt: Über der Wasseroberfläche glitzert ein Eisberg vor strahlend blauem Himmel. Der Teil, der unter der Oberfläche bläulich schimmernd lauert, ist sechsmal so massiv. Maria Ressa hat den Eisberg beschriftet: "Tweet" steht neben der Spitze, die Partien unter Wasser sind in "Emotion", "Netzwerke" und "Verhalten" unterteilt. Was jemand auf dem Kurznachrichtendienst Twitter schreibt, ist nur die Spitze des Eisbergs, so die Aussage - und wer Tweets beeinflusst, kann damit auch die Gefühle, Umgebung und Handlungen von Menschen verändern. Davon ist Ressa überzeugt.
Die Philippina ist eine von mehreren Forschern und Aktivisten aus aller Welt, die zu Wochenbeginn auf dem Global Media Forum in Bonn ein drängendes Thema diskutierten: Strategien gegen den digitalen Dschihad, die Radikalisierung und Rekrutierung von Jugendlichen durch Terrormilizen wie den "Islamischen Staat" (IS), Boko Haram oder Al-Shabaab.
Einig sind sich alle darüber, dass diese Gruppen, allen voran der IS, eine professionelle weltweite PR-Kampagne betreiben. "Die Posterboys des Terrorismus" nennt sie der kanadische Menschenrechtler Kyle Matthews. Die Sozialen Medien dienten ihnen als Werkzeug der internationalen Kriegsführung, analysiert die pakistanische Entwicklungsberaterin Gulmina Bilal: Die Terroristen sprechen Teenager vor allem über Facebook an, ältere über Twitter, Kinder ab acht Jahren über Cartoon-Apps. "Sie sprechen nie als erstes über Terrorismus. Sie fragen eher: Was hast du heute gegessen? Ist es nicht schlimm, dass die Kinder in Syrien nichts zu essen haben?"
Mehrere hundert Jugendliche aus Deutschland sollen laut Bundesinnenministerium in den Krieg nach Syrien oder in den Irak gezogen sein. Viele von ihnen beschäftige das Thema Ungerechtigkeit, sagt Bilal - ob in Nahost oder vor der eigenen Haustür im Westen, wo sie keine Perspektive sehen. Über die Sozialen Medien kultivierten und verbreiteten sie dieses Lebensgefühl, bestätigt Ressa. "Wut und Inspiration sind die Emotionen, die dort am stärksten wirken", hat sie beobachtet.
Die Terroristen, die genau diese - nicht nur muslimischen - Jugendlichen kontaktieren, träten nicht als Autorität auf, sondern gäben sich authentisch. Das wiederum erschwert es westlichen Regierungen und Institutionen, so genannte Gegenerzählungen zu entwickeln. Anfang des Jahres erklärte Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (CDU), Deutschland müsse "andere Geschichten erzählen", etwa die von Dschihad-Aussteigern. In der Bundeszentrale für politische Bildung gibt es entsprechende Überlegungen.
Auch Facebook, Twitter und Co. seien hier in der Pflicht, meint Matthews. Die kanadische Forscherin Marie Lamensch betont zudem die Rolle der Medien. So sei bislang kaum thematisiert worden, warum junge Frauen in den Krieg zögen. "Sie werden stets als Opfer dargestellt", betrachteten sich selbst aber vielmehr als Löwinnen, die für Allah kämpfen, ihren "bärtigen Prince Charming" unterstützen und für Nachwuchs sorgen - in der Sprache der Terroristen: für "cubs of the caliphate" (dt. etwa: die Löwenjungen des Kalifats).
Nur eine globale Strategie von Medien, Nichtregierungsorganisationen und staatlichen Einrichtungen könne das Problem lösen, so der Bonner Appell. Bildung über den Islam sei entscheidend, einzelne Journalisten müssten sich auf Soziale Medien spezialisieren, um die Terrorstrategien zu durchschauen und zu beschreiben. Denn der Terrorist, der mit Kalaschnikow und Turban in einer Höhle herumkrieche, sei ein Klischee, so Bilal. "Eher sind wir diejenigen, die in der Höhle sitzen und immer hinterherlaufen."
Als hoffnungslos schätzen die Beobachter die Lage jedoch nicht ein. "Früher hatte niemand eine Ahnung, wie Terroristen denken und wie ihre Propaganda wirkt", sagt der ägyptische Journalist Fathy Hatab. Die Sozialen Medien machten diese Vorgänge transparent und nachvollziehbar. Diese Chance müsse man jedoch nutzen - und die Bedrohung ernst nehmen, so Matthews: "Das Internet kennt keine Grenzen - und der Islamische Staat auch nicht."
(KNA - pkqmn-89-00011)
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