Syrischer Christ Sami Barsoum erinnert an den Genozid von 1915
KNA 13.04.2015
Von Andrea Krogmann (KNA)
Jerusalem (KNA) Sami Barsoum bückt sich nach seinem Maßband, das erste von unzähligen Malen an diesem Nachmittag. "Mein Sport", lächelt er charmant - ein feiner alter Mann im feinen Zwirn mit perfektem Krawattenknoten. "Weil ich es nicht schaffe, den Laden zu schließen, und zum Fitness zu gehen." Der Laden: sein kleines Schneideratelier, ein bisschen versteckt in einer der schmalen Gassen der Jerusalemer Altstadt. Die gläserne Ladentür gibt den Blick frei auf die Kuppeln der Grabeskirche.
Auch wenn der 79-Jährige heute nur noch für besondere Aufträge zu Schere, Nadel und Faden greift: Die paar Quadratmeter Atelier unweit der syrisch-orthodoxen Kirche sind wie sein Besitzer eine Institution. Die Wurzeln ihrer Existenz gehen zurück in das Jahr 1915, als Hunderttausende Christen im Osmanischen Reich verfolgt wurden. Viele Barsoums starben bei den Massakern; Sami Barsoums Vater gelang die Flucht. Seither lebt die syrisch-orthodoxe Familie in Jerusalem.
Über Sami Barsoum zu schreiben, ist ein bisschen wie Eulen nach Athen zu tragen. Zeitungsausschnitte und Fotos hängen in dem kleinen Atelier: Barsoum mit Berühmtheiten der Stadt. Der Schneider schiebt ein paar Schals im Regal hinter sich zur Seite. Noch mehr Fotos, die Familie diesmal. "Mein Vater Moussa und ich in Tel Aviv, so etwa 1945." Sami Barsoum tippt mit dem kleinen Finger auf ein altes Schwarz-Weiß-Bild. Die Hände zittern ein bisschen, aber die Stimme ist fest und klar.
Mit sieben Jahren kam Moussa Barsoum nach Jerusalem, zusammen mit seiner Mutter, einem Bruder und einer Schwester. Moussas Vater starb auf dem Weg. Erinnerungen an ihn hat er kaum. Mit den Fotos zieht der Schneider Artikel aus dem Regal. Gesammelte Werke des Mukhtars, arabisch "Erwählter", so sein Ehrentitel in der syrisch-orthodoxen Gemeinschaft. Sami Barsoum schreibt. "Nichts Politisches; über mein Volk, unsere Kultur und Geschichte." Es ist eine schmerzhafte Geschichte, und den meisten ist sie unbekannt. "Selbst wir hier wissen wenig über unseren eigenen Genozid. Wir schreiben nicht darüber und erzählen unseren Kinder nicht davon. Nur einmal im Jahr erinnern wir im Gottesdienst an die Toten."
Sami Barsoum hat viel dazu gelesen, Zeitzeugen befragt. Mehr als eine halbe Million assyrische Christen wurden zwischen 1912 und 1923 ermordet. Einmal, 2009, hat Sami Barsoum den Geburtsort seines Vaters besucht, ein Dorf nahe Mardin in der Südosttürkei. "Es war eine harte Zeit, für alle Christen!"
Die Armenier, sagt der syrisch-orthodoxe Christ, "haben ein eigenes Land und sind schlau und stark". Das Gedächtnis an den Genozid halten sie medienwirksam wach. Auch sind sie zahlenmäßig mit 10 bis 15 Millionen Gläubigen wesentlich größer. "Wir zählen heute rund zwei Millionen – über die gesamte Welt verteilt. Als ich Kind war, gab es in Jerusalem noch 3.000 syrisch-orthodoxe Familien. Heute sind es 150, vielleicht 160." Die meisten gehen, weil sie im Nahen Osten keine Zukunft sehen - und "wer einmal geht, der kommt nicht wieder". Sami Barsoum spricht ohne Groll. Dass die Jungen heute nichts über ihre Geschichte wissen? "Auch wir vergessen gern unsere Geschichte! Die Bibel sagt, du sollst vergeben – auch deinem Feind. Vergebung ist unsere Religion."
Mit Sami Barsoum endet in seiner Familie die Tradition der aramäischen Muttersprache. "Wir leben in einem arabischen Land. Die Sprache ist Arabisch", sagt er. "Niemand hier wird uns ein Land geben, in dem wir unsere eigene Autorität aufbauen können. Also sollten wir die Autorität des Landes respektieren, in dem wir leben. In Jerusalem respektieren wir Israel, in Europa die jeweilige Regierung."
Den Traum vom eigenen Land hat Sami Barsoum nicht - stattdessen "eine komplizierte Geschichte". "Als mein Vater hierher kam, war Palästina osmanisch. Also bin ich türkisch. Als ich geboren wurde, war es eine britische Kolonie, also bin ich britisch. Mit 1948 kam der jordanische Pass, 1967 die israelische Identitätskarte. Ginge ich nach Ramallah, bekäme ich als Palästinenser auch die palästinensische Identität. Fünf Nationalitäten, aber ein und dieselbe Person und eine Stadt!" Vor allem aber ein Wunsch: nach einem Leben in Frieden.
(KNA - pkokt-89-00130)
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