Franziskus scheut Konflikt mit Ankara in Armenier-Frage nicht
KNA 21.04.2015
Von Thomas Jansen (KNA)
Vatikanstadt (KNA) Papst Franziskus hat sich das getraut, was viele andere sich nicht wagen: In einem Gottesdienst zum 100. Jahrestag des Beginns der Armenier-Verfolgung bezeichnete er die Ermordung von bis zu 1,5 Millionen Menschen im Osmanischen Reich als "ersten Genozid des 20. Jahrhunderts". Damit befeuerte der argentinische Papst die Debatte über die Einstufung dieser Massaker erheblich.
Die Menschheit habe im 20. Jahrhundert "drei große, unerhörte Tragödien erlebt", sagte Franziskus im Petersdom. Die erste, die das armenische Volk getroffen habe, werde "allgemein als 'der erste Genozid des 20. Jahrhunderts' angesehen", so der Papst in seinem Grußwort an die armenischen Gäste. Unter ihnen waren der armenische Staatspräsident Sersch Sargsjan sowie die Oberhäupter der armenisch-apostolischen und der armenisch-katholischen Kirche, die Patriarchen Karekin II. und Nerses Bedros XIX. Die Ermordung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern stellte der Papst in eine Reihe mit den Verbrechen des Nationalsozialismus und des Stalinismus.
Ganz offensichtlich an Ankara gerichtet war die Mahnung des Papstes, die Erinnerung an den Völkermord zu pflegen: "Wo es keine Erinnerung gibt, hält das Böse die Wunde weiter offen", so Franziskus. Zugleich rief er zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern auf.
Der Protest der türkischen Regierung erfolgte prompt. Das Außenministerium bestellte den vatikanischen Botschafter ein und protestierte offiziell. Außenminister Mevlüt Cavusoglu erklärte via Twitter, der Papst schüre "Hass". Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nannte die Äußerung des Papstes "Unsinn" und warnte ihn davor, sie zu wiederholen. Zugleich kündigte er jedoch an, eine internationale Historikerkommission einsetzen zu wollen, die sich mit dem Thema befassen solle.
Franziskus hat Proteste, wenngleich vielleicht nicht in dieser Schärfe, offenbar bewusst in Kauf genommen. Denn diesmal äußerte er sich nicht spontan, sondern las einen vorbereiteten und vom Vatikan zuvor verbreiteten Redetext vor.
Der Vatikan reagierte gelassen. Man wolle aus der Sache "keinen Streitfall" machen, sagte sein Sprecher Federico Lombardi. Der Vatikan habe in dieser Frage "eine sehr präzise und konsequente Linie". Im Übrigen sei "sonnenklar", dass Franziskus lediglich einen früheren vatikanischen Sprachgebrauch aufgegriffen habe.
Franziskus hatte in der Gedenkmesse seinen Vorgänger Johannes Paul II. (1978-2005) zitiert. Der polnische Papst, der den Völkermord an den Juden miterlebt hatte, bekundete 2001 während seiner Armenien-Reise in einer gemeinsamen Erklärung mit dem Oberhaupt der armenisch-apostolischen Kirche, Karekin II.: "Die Ermordung von eineinhalb Millionen Christen ist das, was generell als der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts bezeichnet wird.
Wie dünnhäutig man in Ankara reagiert, wenn ein Papst vom "Völkermord" an den Armeniern spricht, hat Franziskus bereits kurz nach seinem Amtsantritt erfahren. Als er die Gräueltaten an den Armeniern Anfang Juni 2013 in einem privaten Gespräch mit Nachfahren von Opfern der Massaker, das später publik wurde, schon einmal als "ersten Genozid des 20. Jahrhunderts" bezeichnete, protestierte die Türkei offiziell. "Absolut inakzeptabel" sei diese Äußerung, hieß es damals in einer Erklärung des Außenministeriums in Ankara.
Bei seiner Türkei-Reise im November hatte Franziskus die Verfolgung der Armenier nicht angesprochen. Auf dem Rückflug nach Rom sandte er jedoch ein versöhnliches Signal an die türkische Regierung aus. Er würdigte einen Brief des vormaligen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, in dem dieser 2014 als erster Regierungschef in der türkischen Geschichte offiziell der Leiden der armenischen und syrisch-orthodoxen Christen gedachte. Einige hätten diese Erklärung als "schwach" angesehen, so Franziskus. Er selbst wisse nicht, ob sie "stark oder schwach" sei. In jedem Fall bedeute sie eine "ausgestreckte Hand" der türkischen Regierung - und das sei "immer positiv".
(KNA - pkoml-89-00057)
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