Die Islamwissenschaftlerin Nayla Tabbara über Toleranz im Koran
KNA 30.03.2015
"Der IS lässt sich nichts beibringen"
Die Islamwissenschaftlerin Nayla Tabbara über Toleranz im Koran
Von Burkhard Jürgens (KNA)
Beirut (KNA) Laut der Islamwissenschaftlerin Nayla Tabbara spiegelt der Koran eine Entwicklung Mohammeds: Hoffte der Prophet erst Christen und Juden für sich zu gewinnen, so fand er nach einer Phase des Konflikts zu einer positiven Bewertung religiöser Vielfalt. Auf dieser Basis wirbt die libanesische Expertin in ihrem Heimatland und international für Pluralität und Dialog. Im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) erklärt Tabbara, die auch Mitgründerin der Stiftung Adyan für Erziehung zu gewaltfreier Konfliktlösung ist, warum der "Islamische Staat" sie nicht von ihrer The-se abbringt.
KNA: Frau Tabbara, viele fürchten, dass der Koran letztlich doch einen Keim der Gewalt enthält. Ist der "Islamische Staat" (IS) nicht der Beleg dafür?
Tabbara: Der Koran enthält hohe Werte und Normen, Erzählungen über frühere Propheten und über die neugebildete islamische Gemeinschaft im 7. Jahrhundert. Darunter sind auch kriegerische Erzäh-lungen. Man kann nicht leugnen, dass manche Verse gewalttätig sind oder zu Gewalt anstacheln - wie auch Verse im Alten Testament, dem indischen Mahabharata und anderen heiligen Schriften. Über die längste islamische Geschichte wurden diese Verse ausschließlich auf den Kontext der ers-ten Eroberungen bezogen. Nichtsdestoweniger haben manche Autoren sie benutzt, um Gewalt zu propagieren. Der IS folgt dieser Linie - und führt sie zu einem nie dagewesenen Extrem.
Für mich ist IS der Beweis, dass man gewalttätige Deutungen in den Religionen nicht sprießen las-sen darf. Es zeigt auch: Im Islam muss es Kriterien dafür geben, was als Interpretation akzeptabel ist. Diese müssen auf Werten und Prinzipien gründen, die der Islam selbst hochhält: Menschenwür-de, Barmherzigkeit, Vergebung.
KNA: Sie vertreten die These, im Koran zeige sich eine Entwicklung zu einer "Einheit in Verschie-denheit". Welche Zustimmung ernten Sie damit in Fachkreisen?
Tabbara: Ich spreche lieber von einer "Archäologie der Pädagogik des Koran". Der Ansatz ist von der wissenschaftlichen Gemeinschaft sehr gut aufgenommen worden. Er findet Beifall von maßge-benden Islam- und Koran-Experten ebenso wie bei Bibelwissenschaftlern und Theologen. Allmählich wird er auch in islamischen Kreisen angenommen, braucht aber weitere Verbreitung.
KNA: Wird da aber nicht bestenfalls ein "Kampf der Kulturen" von einem innermuslimischen "Kampf der Interpretationen" abgelöst?
Tabbara: Der Kampf der Interpretationen in der muslimischen Welt ist schon im Gang. Das zeigen der IS und die Deutungen anderer Muslime. Der IS hat liberale und konservative Muslime einander näher gebracht: Beide sehen ihre Religion von Kriminellen und Monstern gekidnappt. Das lässt sie erkennen, wieviel sie gemeinsam haben.
Als nächsten Schritt müssen wir eine gemeinsame Theologie über das Verhältnis von Islam und Staat, Islam und andere Religionen, Dschihad und dergleichen entwickeln, um die Mehrdeutigkeit von Text und Interpretation über die Jahrhunderte zu klären. Ich sehe gute theologische Gründe, dass der Islam zu einer Akzeptanz religiöser Vielfalt und einer Annahme des anderen aufruft. Wir brauchen aber auch eine kritische Auseinandersetzung mit unserer Geschichte. Um voranzukom-men, müssen wir uns den Fehlern und der Gewalt der Vergangenheit stellen.
KNA: Wie wollen Sie das dem IS und seinen Gesinnungsgenossen beibringen?
Tabbara: Der IS lässt sich nichts beibringen. Was man tun kann, um Extremismus zu verhindern, ist, dass islamische Autoritäten und muslimische Denker klare, offene Interpretationen vorlegen. So hat
Montag, 30. März 2015 Seite 38
die Kairoer Al-Azhar-Universität als höchstes sunnitisches Lehrinstitut Erklärungen veröffentlicht, dass der Islam keinen religiösen Staat braucht, sondern in einem zivilen Staat bestehen kann. Ähn-lich gab es Erklärungen zu Gewissens- und Glaubensfreiheit. Diese Deutungen müssen bei jungen Muslimen in Ost und West publik gemacht werden, um die Ausbreitung extremistischer Ideen aufzu-halten.
KNA: Welche Reaktionen haben Sie als Frau von Islamgelehrten und Geistlichen erlebt?
Tabbara: Zu Beginn meiner Dialogtätigkeit fand ich mich oft als einzige Frau in Treffen christlicher und mulimischer Religionsführer. Das kommt auch heute noch vor, aber die Realität hat sich verän-dert. Inzwischen nehmen immer mehr Frauen am Dialog teil. Unsere Stiftung hat im Libanon über die Jahre viel dafür getan, Frauen als religiöse und gesellschaftliche Verantwortungsträgerinnen in diese geschlossenen Meetings zu bringen und Geistliche daran zu gewöhnen.
Die Geistlichen, mit denen ich zu tun habe, ob Muslime oder Christen, sehen mich und Kolleginnen als gleichrangig an und behandeln uns mit höchstem Respekt und Wertschätzung. Negative Reakti-onen gab es nur von Ungebildeten, die sich als religiöse Autorität aufspielten, oder von Extremisten, die keine Frau anschauen können.
(KNA - pknmr-89-00091)
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