Die Jesidin Salwah war acht Monate in der Gewalt des IS
KNA 19.06.2015
Von Andrea Krogmann (KNA)
Bersive (KNA) Zwei Monate und 20 Tage. Die Details haben sich festgebrannt in Salwah Darwischs Gedächtnis. Nur selten zögert die junge Frau, wenn sie von den Etappen ihrer Odyssee erzählt. Die 18-jährige irakische Jesidin wurde auf der Flucht vor der Terrorgruppe "Islamischer Staat" (IS) gekidnappt. Nach acht Monaten gelang ihr die Flucht. Im Flüchtlingslager Bersive im nordirakischen Governatorat Dohuk hat sie ihre Eltern wiedergefunden, "vor zwei Monaten und 20 Tagen". Die Familie ist in Sicherheit, aber das Trauma sitzt tief.
Das Zelt der Darwischs gehört zu jenen im Lager, die schon mit Klimaanlage ausgestattet sind; ein Segen in einer Region, in der es am Tag über 50 Grad warm werden kann. Im Hintergrund läuft der Fernseher; Werbung für ein Fitnessstudio, dann ein Film a la Bollywood. Die Familie gehört nicht zu denen, die sich über die Lage im "Camp I" beschweren.
Hätte sie gekonnt, sie hätte sich umgebracht, sagt Salwah, die Stimme emotionslos, der Blick ausweichend. So wie viele der anderen Mädchen, die das Schicksal der Jesidin teilen. 700 waren sie am Anfang, erzählt Salwah, eingesperrt in einer Turnhalle bei Wasser und Brot. Salwah hatte es auf der Flucht vor den IS-Kämpfern nicht mehr rechtzeitig ins rettende Sindschar-Gebirge geschafft. An einer Straßensperre wurden sie und ihre Mitreisenden aus dem Auto gerissen, nach Alter und Geschlecht in Gruppen aufgeteilt.
Die Männer und Alten kamen nach Schingal, die jungen Frauen nach Mossul. Die ersten 15 Tage verbrachten sie in der Turnhalle. "Es war schwer, in der Dunkelheit auszumachen, wann die Nacht aufhört und der Tag beginnt", sagt Salwah. Ihre Mutter bringt einen Krug Wasser und Gläser.
"Iraker, Türken und Turkmenen, ein paar alt, ein paar jung, normal eben", beschreibt Salwah ihre IS-Peiniger. Wie viele es waren, kann sie nicht genau sagen. "Viele, sehr viele", und sie zeigten den Frauen unvermummt ihr Gesicht. Immer nachts, wenn sie träumt, sagt Salwah, sind sie wieder da. Am Anfang waren sie freundlich, dann fing das an, was Salwah "schlechtes Benehmen" nennt. "Die Turkmenen waren die schlimmsten." Auch im Grauen gibt es Abstufungen. "Sie haben die schönen Frauen von den anderen getrennt, die haben sie dann vergewaltigt, manche von ihnen haben sich umgebracht." So wie eine ihrer Freundinnen. Von der Turnhalle wird Salwah in ein vom IS übernommenes Christenhaus gebracht, 70 Frauen sind jetzt noch übrig. Von dort geht es weiter nach Ba'aj, dann wieder nach Schingal und nach Kocho. Wieder und wieder werden die Frauen verschleppt; mit jedem Ortswechsel wird die Gruppe kleiner. Immer sind sie dem "schlechten Benehmen" ausgesetzt. "Nur wer sich zum Islam bekannte, war sicher", sagt die Jesidin.
Andere können fliehen. Als der letzten Mitgefangenen die Flucht gelingt, wird Salwah bestraft. Tagelang gibt es Prügel statt Essen und Wasser; man droht ihr mit dem Frauenmarkt der Islamisten in Raqa. Ein Luftangriff der Anti-IS-Koalition kommt dazwischen. Nach zwei Monaten als IS-Hausmädchen in Ba'aj bringt man sie in eine IS-Familie nach Mossul. Von dort gelingt ihr die Flucht; "nachts, als der Mann nicht zuhause war und seine beiden Frauen schliefen". Als IS-Überlebende hofft Salwah auf eine Ausreise nach Deutschland. Baden-Württemberg hatte sich im August 2014 bereiterklärt, 1.000 Opfer sexueller Gewalt aus Syrien und dem Nordirak aufzunehmen.
Ihr Vater hockt still neben ihr auf dem Zeltboden. Sein sonnengegerbtes Gesicht kontrastiert die feinen, hellen Züge seiner Tochter. Ob er glücklich ist, Salwah wieder bei sich zu haben? Ein leichtes Beben geht durch Khalaf Darwischs Körper; das Lachen lässt seinen Jesidenbart erzittern. Ein kurzer Moment der Befreiung aus dem Trauma, dann wird es wieder still. Viele andere Familien haben ihre Töchter verstoßen.
Ihr Leben ist zerstört, sagt einer der Männer, die sich zu den Darwischs ins Zelt gehockt haben; "ob sie nach Deutschland kann oder nicht. Wie unser Leben: Wir sterben hier lebendig", sagt er. "Ich bin jeden einzelnen Moment gestorben während der Gefangenschaft", sagt Salwah. "Ich habe nicht geglaubt, dass ich entkommen kann." In Bersive wird Salwah psychologisch betreut. Ob sie ihren Träumen je entkommen wird, ist eine andere Frage.
(KNA - pkqls-89-00037)
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