Bröckelndes Tabu Türkischer Präsident Erdogan geht auf Armenier zu
KNA 30.01.2015
Von Christoph Arens (KNA)
Bonn/Istanbul (KNA) Es ist eines der dunkelsten Kapitel des Ersten Weltkriegs: der Völkermord an den Armeniern, dessen Beginn sich im April zum 100. Mal jährt. Bislang behauptet die türkische Regierung, es habe ihn nie gegeben. Zwar bestreitet sie nicht Hunderttausende Tote. Doch Gewalt und Deportationen seien Folge von bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen, von Seuchen und Not gewesen.
Jetzt allerdings scheint Bewegung in die Debatte zu kommen. Präsident Recep Tayyip Erdogan ist offenbar bereit, sich dem Urteil einer Historiker-Kommission zu beugen. In einem Interview mit dem türkischen Staatsfernsehen TRT erneuerte Erdogan am Donnerstagabend seinen Vorschlag, eine Expertenkommission einzusetzen. "Wenn es wirklich ein Verbrechen gab und ein Preis von uns zu zahlen ist, dann werden wir uns das ansehen und die entsprechenden Schritte tun", sagte er.
Bereits vergangenen April hatte der damalige Ministerpräsident einen Schritt auf die Armenier zu getan. Er bezeichnete es als "eine menschliche Pflicht" auch das Leid, das die Armenier zu jener Zeit durchlebt hätten, zu "verstehen und es mit ihnen zu teilen." Vor wenigen Wochen lud Erdogan auch seinen armenischen Amtskollegen Sergej Sarkissjan ein, der Opfer einer Schlacht im Ersten Weltkrieg vor 100 Jahren zu gedenken.
22 Länder und das Europaparlament haben das Geschehen bislang offiziell als Genozid eingestuft. Der Bundestag sprach 2005 lediglich von "Deportationen und Massakern". Der Begriff "Völkermord" wurde allerdings in der Begründung des Antragstextes verwendet. Derzeit überprüft auch der Europäische Menschenrechtsgerichtshof die Verwendung des Begriffs "Völkermord". Geklagt hat ein türkischer Politiker. Er war in der Schweiz wegen Leugnung des Völkermordes verurteilt worden.
Am 24. April 1915 begann der Völkermord mit der Verhaftung von 235 armenischen Intellektuellen in Istanbul. Zwischen 1915 und 1917 wurden zwischen 300.000 und 1,5 Millionen Armenier ermordet. Die großen Unterschiede bei den Zahlen hängen auch mit ungenauen Bevölkerungsstatistiken zusammen.
Im von Krisen geschüttelten Osmanischen Reich bildeten die Armenier um 1900 eine autonome Gemeinde mit eingeschränkten Rechten. Erfolge in Landwirtschaft, Handwerk und Finanzwesen weckten Neid. Für viele Türken waren die unter westlichem Schutz stehenden Christen Schuld am Siechtum des Reiches.
Schon Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu Pogromen. Allein die Massaker von 1894 bis 1896 hin-terließen zwischen 50.000 und 300.000 Tote. Als zwischen 1909 und 1912 auch die Balkanvölker auf Unabhängigkeit von den Türken drängten oder von den Großmächten annektiert wurden, spitzte sich die Situation zu: Die 1908 an die Macht gekommenen Jungtürken zielten auf ein einheitliches Reich, wollten Türkisch und den Islam als alleinige Basis durchsetzen.
Der Erste Weltkrieg lieferte die Gelegenheit, dieses Konzept umzusetzen. Auf Befehl des Innenministeriums wurde die Elite der Armenier zu Tausenden verhaftet und meist ohne Prozess hingerichtet. Zehntausende starben auf Todesmärschen.
Deutschland, damals Kriegsverbündeter der Türkei, schaute stillschweigend zu, war aber informiert. Der deutsche Vizekonsul in Erzurum hielt 1915 fest: "Die armenische Frage soll nun im gegenwärtigen Krieg gelöst werden", und zwar "in einer Form, die einer absoluten Ausrottung der Armenier" gleichkomme.
Der Widerstand einer kleinen Gruppe ging in die Literaturgeschichte ein: In seinem Erfolgsroman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" schilderte Franz Werfel, wie sich im Herbst 1915 mehrere tausend Armenier am 1.700 Meter hohen Mosesberg verschanzten. Kurz bevor sie aufgeben mussten, wurden sie von einem französischen und einem britischen Kriegsschiff gerettet.
Die Gewalttaten hatten ein Nachspiel, das Rechtsgeschichte schrieb: Nach dem Weltkrieg drängten die westlichen Siegerstaaten erstmals auf Kriegsverbrecherprozesse. Ein türkisch besetztes Kriegsgericht in Istanbul stellte fest, dass die Verbrechen zentral vorbereitet wurden, und verurteilte 17 Angeklagte zum Tode. Die Haupttäter flohen, wurden aber zum Teil von armenischen Attentätern ermordet.
(KNA - pklnk-89-00060)
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