Wissenschaftlerin über die Propaganda des "Islamischen Staats"
KNA 17.07.2015
Von Paula Konersmann (KNA)
Paderborn (KNA) Mit neun Jahren sollten Frauen heiraten, muslimische Studenten sollten keinesfalls mit christlichen in einem Wohnheim leben, Schönheitsoperationen sind Teufelszeug: Solche und ähnliche Botschaften vermittelt ein Propaganda-Schriftstück der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS). Am 24. Juli erscheint im Herder-Verlag die erste deutschsprachige Übersetzung, kommentiert von der muslimischen Theologin Hamideh Mohagheghi. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht die Paderborner Wissenschaftlerin über den Erfolg der IS-Propaganda und ihre Wünsche für den Dialog mit Muslimen.
KNA: Frau Mohagheghi, was hat Sie bewogen, das IS-Manifest zu kommentieren?
Mohagheghi: Ich habe lange überlegt, ob es gut ist, darauf zu reagieren. Letztendlich habe ich mich dafür entschieden, weil mir aus theologischer und muslimischer Perspektive wichtig war, darauf eine Antwort zu geben. Ich wollte jungen Menschen etwas mit auf den Weg geben - damit sie sich nicht beeinflussen lassen.
KNA: Wurden Frauen bisher als Terroristinnen unterschätzt?
Mohagheghi: Nun, offenbar dachte man bislang, dass es sich beim IS um eine kleine Gruppe ohne klar umrissene Ziele handelt. Dass er eine Ideologie vertritt mit dem Ziel, Menschen - auch Frauen - für sich zu gewinnen, das hat man nach meinem Eindruck nicht ernst genug genommen.
KNA: Es haben sich bestimmte Vorstellungen "des" IS-Kämpfers festgesetzt: jung, männlich, perspektivlos, leicht für ein vermeintliches Abenteuer zu begeistern. Wie schätzen Sie dies ein?
Mohagheghi: Damit macht man es sich zu leicht. Im Zusammenhang mit dem IS wird nur über fanatisch-religiöse Menschen gesprochen, die eine extreme Ideologie des Islam nachleben und verbreiten wollen. Dabei stellen sich auch Fragen an unsere heutige Gesellschaft: Warum lassen junge Menschen sich beeinflussen von einer Ideologie, die total gewaltbereit ist?
KNA: Haben Sie während Ihrer Recherche erste Antworten auf diese drängende Frage gefunden?
Mohagheghi: Meinen Erfahrungen nach fühlen sich viele in der jungen Generation vor allem in der westlichen Welt orientierungslos. Die jungen Menschen suchen nach einem Sinn im Leben, aber alles dreht sich um Gewinn, Leistung und darum, besser zu sein als andere. Da ist der Sinn des Lebens ein wenig verloren gegangen. Die jungen Menschen, die danach suchen, fühlen sich zudem oft einsam. Sie sind zwar in den Sozialen Netzwerken unterwegs, aber sie haben kaum mit realen Menschen zu tun. Wenn man sie im Cafe beobachtet, sitzen sie nebeneinander, trinken ein Tässchen Kaffee - und jeder ist mit seinem Smartphone beschäftigt. Diese Einsamkeit und Sinnsuche zieht meiner Meinung nach die Menschen dorthin, wo sie ein sinnvolles Leben vermuten.
KNA: Offenbar spricht der IS auch gezielt junge Frauen an, die befürchten, hierzulande keine Anerkennung zu finden, wenn sie "nur" Hausfrau und Mutter sind. Was könnte der Westen dieser Propaganda entgegen setzen?
Mohagheghi: Wichtig wäre mehr Wertschätzung dafür, wenn eine Frau sich entscheidet, drei Jahre eine Auszeit vom Beruf zu nehmen für Kinder und Familie. Man sollte insgesamt jungen Menschen die Möglichkeit geben, sich für die Familie zu entscheiden, ohne dass sie Angst um ihre Arbeitsstelle haben müssen. Vielleicht wäre auch eine bessere finanzielle Unterstützung möglich. Momentan wird zwar überlegt, wie viele Kitas und Erzieherinnen wir brauchen, aber nicht, was für Frauen getan werden kann, die ihre Kinder selbst erziehen möchten.
KNA: Sie sprechen gesellschaftliche Probleme an. Geht es den Terroristen nicht auch um Religion?
Mohagheghi: Die Religion spielt eine Rolle, aber keine herausragende - und auch nicht die Rolle, die ihr die westliche Welt gibt. Viele Menschen sagen: Das sind verrückte Muslime. Tatsächlich wird im Koran, in den Quellen und in der islamischen Geschichte durchaus zu Gewalt aufgerufen. Da sind wir Theologen gefragt, uns mit dieser Schattenseite unserer Religion auseinanderzusetzen - wie dies auch in anderen Religionen geschieht. Aber die Hauptgründe für das Erstarken des IS sehe ich in soziopolitischen Ungerechtigkeiten, in politischen Entscheidungen, die stark gewinnorientiert sind.
KNA: Sehen Sie eine Wechselwirkung zwischen diesen Schreckensmeldungen über den Terror und islamfeindlichen Initiativen wie Pegida?
Mohagheghi: Zumindest stellen solche Bewegungen den Terror in den Vordergrund. Sie stellen die Muslime als religiöse Fanatiker dar, die Deutschland überrollen und islamisieren wollen, und den Islam als eine extreme Religion, die nicht in unsere Zeit passt. Tatsächlich scheint dahinter eine Angst vor dem Fremden zu stecken. Die Menschen fragen sich: Was wird aus meinem Leben? Wo bleibe ich? Diese Ängste sollte man ernst nehmen.
KNA: Was würden Sie sich wünschen für den Dialog zwischen Muslimen und andersgläubigen Menschen?
Mohagheghi: Ich wünsche mir, dass die Muslime ernst genommen werden, dass sie nicht länger als Menschen betrachtet werden, denen man immer sagen muss, wo es lang geht. Obwohl ich sehr gute interreligiöse Gespräche führe, spüre ich oftmals einen lehrerhaften Umgang mit den Muslimen: Im Christentum gab es vor 500 Jahren die Reformation, dahin müsse der Islam auch noch kommen. Dieser undifferenzierte Vergleich mit der eigenen Tradition stört mich - schließlich hat es Gründe, dass es im Islam eventuell keine vergleichbare Reformation geben kann. Das bedeutet aber nicht, dass es im Islam keine Reform möglich ist und auch keine bis jetzt gegeben hat. Die Reformation im Christentum hat stark mit der Macht der Kirche zu tun, die in dieser Form im Islam nicht gibt. Insofern wünsche ich mir, dass man den Muslimen die Möglichkeit gibt, sich selbst zu definieren und auszudrücken - und dass man ihnen das Potenzial dazu zutraut.
(KNA - pkrln-89-00152)
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