Bundestag spricht unmissverständlich von Völkermord an Armeniern
KNA 24.04.2015
Von Christoph Scholz (KNA)
Berlin (KNA) Die Armenier, Aramäer, Assyrer und Pontos-Griechen haben lange darauf gewartet und gedrängt. Für sie dürfte die wenn auch späte Anerkennung der Leiden ihrer Völker durch das deutsche Parlament eine Genugtuung sein. Noch einmal traten die ungeheuerliche Brutalität und das systematische Morden der Jungtürken im Osmanischen Reich vor das geistige Auge, als Bundestagsabgeordnete am Freitag Zeitzeugen der Gräueltaten an den 1,5 Millionen Menschen zitierten. "Das, was mitten im Ersten Weltkrieg im Osmanischen Reich stattgefunden hat, unter den Augen der Weltöffentlichkeit, war ein Völkermord", betonte Bundestagspräsident Norbert Lammert. Wie am Abend zuvor bereits Bundespräsident Joachim Gauck, vollzog er damit im politischen Raum das nach, was unter Historikern längst unumstritten ist.
"Geschichte fordert jenseits historischer Fakten nach Deutung, sie ist damit zwangsläufig politisch", betonte der Parlamentspräsident und widersprach so der offiziellen türkischen Position, dies sei allein Sache der Historiker. "Den Streit mag man beklagen, er ist aber notwendig - und er gehört auch ins Parlament", so der CDU-Politiker.
Auch der Bundestag hatte Jahrzehnte über die Deutung der Ereignisse zwischen 1915 und 1918 gestritten - bis zuletzt. So war der Begriff "Völkermord" zunächst wieder aus einem Koalitionsantrag gestrichen worden, fand dann aber nach langem Tauziehen erneut Eingang - ausschlaggebend war wohl die Haltung von Gauck. Allerdings wird der Genozid nur indirekt erwähnt, als Beispiel für die Völkermorde des 20. Jahrhunderts. Ein "Versteckspiel hinter sprachlichen Spitzfindigkeiten", das die Linken-Abgeordnete Ulla Jelpke "beschämend und dem Anlass nicht würdig" brandmarkte.
In der Debatte wurde allerdings Klartext geredet, gerade auch von Vertretern der Koalition. So äußerte der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen zwar Verständnis für das Lavieren der Regierung, weil es um das Verhältnis zur Türkei gehe. Er betonte aber zugleich: "Bei Völkermord hört die Abwägung auf." Und er widersprach der Aussage von Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), man könne die Geschehnisse nicht auf einen Begriff reduzieren. Das Gegenteil sei der Fall: Es gehe beim Begriff Völkermord um eine "Beschreibung der Dimension des Verbrechens".
Für die Parlamentarier hängt die unmissverständlichen Benennung des Genozids auch mit der besonderen Erfahrung Deutschlands zusammen. "Seit den beispiellosen Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts wissen wir, dass es keinen wirklichen Frieden geben kann, solange nicht den Opfern, ihren Angehörigen und Nachkommen Gerechtigkeit widerfährt: im Erinnern an das, was geschehen ist", fasste es Lammert zusammen.
"Heute beenden wir das Verdrängen und Vertuschen", so Grünen-Fraktionschef Cem Özdemir. Durch Aussprechen der Wahrheit könne "ein Anfang für Versöhnung und Aufarbeitung geleistet werden". Der türkischstämmige Abgeordnete verwies dabei auf Erwartungen aus der türkischen Zivilgesellschaft, die ein klares Bekenntnis des Bundestags erwarte. Der Bundesregierung warf er hingegen vor, jene zu unterstützen, die den Völkermord leugneten.
Zum Gedenken an den Genozid gehörte für die Abgeordneten eine weitere Dimension, auf die der Bundespräsident am Vorabend im Berliner Dom besonders abgehoben hatte: die Mitverantwortung des Deutschen Reichs an den Verbrechen. "Diese Mitschuld einzuräumen, ist Voraussetzung unserer Glaubwürdigkeit gegenüber Armeniern wie der Türkei", betonte Lammert.
Alle Reden waren von der Überzeugung getragen, dass auch für die Türkei der unabdingbare Weg einer Aussöhnung mit den Armeniern nur über die schmerzhafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit führen könne. Dazu biete Deutschland aus eigener Erfahrung seine Hilfe an. Dietmar Nietan (SPD), der sich vehement für die Verwendung des Begriffs Genozid eingesetzt hatte, betonte denn auch, es gehe nicht um Hass, Belehrung oder Beleidigung der befreundeten Türkei. Eine Auseinandersetzung könne nur ein Ziel haben: die Versöhnung und den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
(KNA - pkomo-89-00070)
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