Religion wird zu einem Wahlkampfthema in der Türkei
KNA 08.05.2015
Von Bettina Dittenberger (KNA)
Istanbul (KNA) Die Religion ist zu einem Wahlkampfthema in der Türkei geworden. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan tritt mit dem Koran in der Hand auf und appelliert an die Wähler, sie sollten bei der Parlamentswahl am 7. Juni die Opposition bestrafen. Die Kurdenpartei HDP ihrerseits fordert die Abschaffung des staatlichen Religionsamtes - worauf Ministerpräsident Ahmet Davutoglu kontert, die Regierungsgegner wollten die Türken von ihrem islamischen Glauben entfremden. Hinter solcher Rhetorik stehen die Bestrebungen aller beteiligten Parteien, konservative Wähler anzusprechen.
Erdogan und seine islamisch-konservative Regierungspartei AKP streben eine Fortsetzung ihrer Regierung an. Zwar liegt die AKP in den Umfragen mit etwa 42 Prozent weit vor der Konkurrenz, ist aber von ihrem eigentlichen Ziel noch entfernt: Erdogan will im neuen Parlament mindestens 330 Abgeordnete auf seiner Seite haben, um Verfassungsänderungen zur Einführung eines Präsidialsystems verabschieden zu können. Dazu braucht seine Partei etwa 46 Prozent der Stimmen - und also noch viele zusätzliche Wähler.
Zudem ist da noch die Kurdenpartei HDP. Schafft sie die Zehn-Prozent-Hürde für den Parlamentseintritt, sinkt die Zahl der Mandate für die AKP automatisch; das Ziel von 330 Abgeordneten der Erdogan-Partei wäre dann unerreichbar.
Auf den ersten Blick mögen solche Berechnungen nur wenig mit Koran und Islam zu tun haben. Und doch bilden sie den Grund dafür, warum die türkischen Politiker vier Wochen vor dem Wahltag mit so viel Verve das Thema Religion beackern. Da die AKP unbedingt die HDP unter zehn Prozent halten will, spricht sie die kurdischen Wähler an - und viele von diesen sind religiös-konservativ. Da war es kein Zufall, dass Erdogans Auftritt mit dem Koran in Siirt stattfand, im südostanatolischen Kurdengebiet.
Doch die HDP wehrt sich. Parteichef Selahattin Demirtas warf der Regierung vor, mit großem Getöse eine Koran-Ausgabe in kurdischer Sprache angekündigt zu haben. Doch dann habe Ankara nur ein einziges Exemplar drucken lassen und es Erdogan in die Hand gedrückt, um damit kurdische Wähler zu beeindrucken. Das staatliche Religionsamt wies dies zurück und sprach seinerseits von einer Kampagne der Opposition.
Ohnehin stehen sich Religionsamt und HDP in herzlicher Abneigung gegenüber. Demirtas will die Behörde im Fall einer Regierungsbeteiligung seiner Partei abschaffen. Viele Kritiker werfen dem Religionsamt vor, es kümmere sich nur um die große sunnitische Mehrheit der Türken und benachteilige Gruppen wie die Aleviten, Anhänger einer liberalen Spielart des Islam. So weigert sich Ankara, die Gotteshäuser der Aleviten als offizielle Gebetsstätten anzuerkennen. Alevitische Kinder müssen in der Schule am sunnitischen Religionsunterricht teilnehmen.
Bei den rund zwölf Millionen Aleviten rennt Demirtas also mit seiner Forderung nach einer Abschaffung des Religionsamtes offene Türen ein. Das könnte sich auch in wertvollen Wählerstimmen niederschlagen. Das Religionsamt steht zudem wegen einer Dienstwagenaffäre in der Kritik. Behördenleiter Mehmet Görmez hatte sich einen umgerechnet rund 300.000 Euro teuren neuen Wagen zugelegt. Nach Protesten über die Medien will er das Fahrzeug jetzt zurückgeben. Laut Pressemeldungen ließ sich der Amtsleiter zu allem Überfluss auch noch ein luxuriöses Jacuzzi-Bad in seiner Dienstwohnung installieren. Nicht nur für die AKP und für Demirtas sind die religiös-konservativen Wähler wichtig. Alle türkischen Parteien müssen beachten, dass sich zwei von drei Türken selbst als fromm bezeichnen. Als besonders gottesfürchtig gelten die weiblichen Wähler, was in den vergangenen Jahren vor allem der AKP nutzte: Mehr als 60 Prozent der AKP-Wähler sind Frauen. Hinzu kommt nach Meinung einiger Beobachter, dass die Partei mit Hilfe des Themas Islam im Wahlkampf sehr gut von der sich eintrübenden Wirtschaftslage ablenken könnte. Bis zum 7. Juni dürften also bei Reden auf den Marktplätzen der Türkei weiterhin viele religiöse Töne zu hören sein.
(KNA - pkpks-89-00125)
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