Flüchtlinge in Nigeria leben in ständiger Angst vor Boko Haram
KNA 19.06.2015
Von Katrin Gänsler (KNA)
Yola (KNA) Mariam Yunnana trägt ein verwaschenes T-Shirt, das viel zu groß für die 60-Jährige ist. Doch das ist ihr völlig egal. Hauptsache, dass sie überhaupt wieder etwas zum Anziehen besitzt. Wenn sie über das vergangene Jahr spricht, lächelt sie kein einziges Mal, sondern schaut starr in die Ferne. Lange war sie auf der Flucht, hat mittlerweile aber ein Dach über dem Kopf gefunden: auf dem Grundstück der katholischen Kirche St. Theresa in Yola, der Hauptstadt des Bundesstaates Adamawa. Zurzeit sind hier 235 Binnenflüchtlinge untergebracht. Insgesamt haben mehr als 1,5 Millionen Menschen im Norden Nigerias aus Angst vor der Terrorgruppe Boko Haram ihre Häuser verlassen.
Mariam Yunnana wird jenen Tag im September 2014 nie vergessen, als Kämpfer der Terrormiliz nach Gwoza, eine Stadt dicht an der kamerunischen Grenze, kamen und sie verschleppten. "Es war ein Dienstag, es regnete. Daher fanden sie viele von uns im Ort. Sie schlachteten unsere Männer ab. Uns Frauen rührten sie nicht an." Stattdessen wurden sie von den Terroristen festgehalten, die den Dschihad ausriefen, den sogenannten Heiligen Krieg. "Sie drohten: Wer sich uns nicht anschließt, der muss verhungern", erzählt Mariam ruhig - und stockt dann, bevor sie weitererzählt: "Ich wäre eher verhungert, als freiwillig mit Boko Haram mitzugehen."
Außerdem schüchterten sie die Frauen und Mädchen ein und drohten, sie in den Sambisa-Wald, den Hauptunterschlupf der Gruppe, zu bringen und dort zu verheiraten. Mariam Yunnana hatte noch Glück. Sie wurde zwar einige Tage lang von den Islamisten eingesperrt. Doch die vergaßen irgendwann, die Tür abzuschließen, und ihr gelang die Flucht. Zehn Tage schlug sie sich durch den Busch von Ort zu Ort durch, bis sie irgendwann in Yola ankam. Auch hier musste sie bereits mehrfach das Flüchtlingslager wechseln.
Manchmal hört Fonyuy Genesis gleich mehrere solcher Schicksale an einem Tag. Er ist eigentlich Schreiner, leitet jetzt aber das Camp auf dem Kirchengelände. "Ich habe immer ehrenamtlich für die Kirche gearbeitet. Daher hat es sich so ergeben", sagt er und notiert die Namen von Flüchtlingen. Es gab Wochen, in denen mehr als 2.000 Menschen rund um das Gotteshaus lebten. Im Moment ist es dagegen fast ruhig. Trotzdem müssen die Lebensmittel, die Hilfsorganisationen bereitstellen, gut eingeteilt werden. "Erst vergangene Woche sind wieder neue Binnenflüchtlinge aus einem anderen Camp zu uns gekommen. Sie waren sehr schlecht ernährt."
Auf die staatlichen Behörden will sich Fonyuy Genesis lieber nicht verlassen. "Ab und zu sehen wir zwar Leute von Nema. Doch das ist viel zu selten", sagt er zögerlich. Nema, das ist die staatliche Nothilfeagentur. "Die Menschen würden sich freuen, wenn deren Mitarbeiter öfters kämen. Dann wüssten auch staatliche Stellen, was uns alles fehlt." Nigeria ist Afrikas größte Volkswirtschaft und afrikanischer Öl-Exporteur Nummer eins. In der Region gibt es kein anderes Land, in dem die Kluft zwischen Arm und Reich so tief ist.
Immerhin hat Lager-Manager Genesis eines geschafft: Er hat einen Putz- und Kochplan erarbeitet, der mittlerweile gut funktioniert. Untätig im Schatten der Kirche zu leben, belastet viele Flüchtlinge nach den Erlebnissen mit Boko Haram am meisten. "Fast alle hier sind Bauern. Wenn jetzt die Regenzeit beginnt, würden sie am liebsten sofort nach Hause gehen und ihre Felder bestellen."
Nachdem die Armee verkündete, die von Boko Haram besetzten Gebiete zurückerobert zu haben, sind bereits viele gegangen. Einige kehrten jedoch nach kurzer Zeit zurück. Auch wenn die Terroristen zurückgedrängt sind, ist das Leben in den Dörfern und Kleinstädten fast unmöglich geworden. Geschäfte, Schulen und Krankenstationen sind geschlossen. Längst nicht alle Regionen gelten als gesichert.
Auch Mariam Yunnana würde zwar lieber heute als morgen zurückgehen. Doch die Angst überwiegt. "Wenn es nicht sicher ist, dann bleibe ich lieber." Sie hat auch Furcht vor dem, was sie bei einer möglichen Rückkehr erwartet. "Während meiner Flucht habe ich neun Menschen begraben. Niemand weiß, was noch alles auf uns zukommt."
(KNA - pkqls-89-00024)
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