Christen in Istanbul gedenken des "Pogroms" von 1955
KNA 04.09.2015
Von Bettina Dittenberger (KNA)
Istanbul (KNA) Mit einem Gedenkgottesdienst erinnert die griechisch-orthodoxe Gemeinde in Istanbul dieses Wochenende an die anti-griechischen Ausschreitungen in der Stadt vom September 1955. Die Unruhen, bei denen Christen getötet und deren Häuser und Geschäfte geplündert wurden, waren in der Türkei lange ein Tabu-Thema. Nur langsam befasst sich die türkische Öffentlichkeit mit diesem dunklen Kapitel der neueren Geschichte: Die Messe am Wochenende ist die erster ihrer Art.
In dem Gottesdienst in der Sankt-Georgs-Kirche des Ökumenischen Patriarchats von Istanbul gedenkt die Gemeinde am Sonntag der mindestens elf Todesopfer der mehrtägigen Unruhen. Mit Knüppeln und Eisenstangen zerstörten türkische Extremisten am 6. und 7. September 1955 Schaufenster und Geschäfte, warfen Autos um und verprügelten Griechen und andere Angehörige nichtmuslimischer Minderheiten. Menschen wurden getötet, verletzt und vergewaltigt, Häuser und Kirchen geplündert. Die Polizei ließ die Angreifer gewähren. Als "September-Ereignisse" werden die Ausschreitungen im türkischen Sprachgebrauch verharmlost.
Kritische Experten wollen dagegen gar Parallelen zwischen dem Istanbuler Gewaltausbruch und den von den Nazis gesteuerten Pogromen an Juden im Jahr 1938 sehen, die sich nicht nur in den vielen Glasscherben erschöpfen, die vor den zerstörten Geschäften zurückblieben. Wie in Deutschland wurden demnach wehrlose Menschen als angebliche Feinde des Volkes überfallen; was zuerst als spontaner Wutausbruch ausgegeben wurde, entpuppte sich als sorgfältig vorbereitete Aktion.
Auslöser des Istanbuler Pogroms war die Nachricht, griechische Extremisten hätten das Geburtshaus des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk im nordgriechischen Thessaloniki mit einer Bombe angegriffen. Am Istanbuler Taksim-Platz formierte sich der Zug der Schläger. Alles war längst vorbereitet.
Laut einigen Darstellungen begannen die Unruhen in Istanbul mehrere Stunden vor der Explosion in Thessaloniki; der Angriff auf das Atatürk-Haus könnte das Werk türkischer Provokateure gewesen sein. Wie sich zudem erst Jahrzehnte nach den Ereignissen anhand damaliger Dokumente herausstellte, hatten sich die Anführer der Extremisten zudem schon in den Wochen vor den September-Ausschreitungen von der Verwaltung aktuelle Listen mit den Adressen von Häusern und Arbeitsplätzen der Christen besorgt. In einigen Fällen wurden Häuser vor der Gewaltaktion mit der Aufschrift "Kein Türke" gekennzeichnet - und damit zur Plünderung freigegeben.
Im Verlauf der Ausschreitungen gab es nach neuen türkischen Angaben neben den elf Toten bis zu 600 Verletzte; 60 Frauen wurden vergewaltigt. Insgesamt wurden in Istanbul rund 5.300 Häuser, Kirchen, Geschäfte und andere Gebäude angegriffen. Unter den Zerstörungen litten vor allem Griechen, aber auch Armenier und Juden. Ein Ziel der Aktion sei die Einschüchterung der christlichen Minderheiten gewesen, sagen Forscher. Zehntausende Griechen und Armenier wanderten nach dem Pogrom aus; Istanbul hörte auf, eine multikulturelle Stadt zu sein. Heute leben nur noch etwa 3.000 Griechen im ehemaligen Byzanz.
Für türkische Nationalisten ist die Aufarbeitung gleichbedeutend mit Landesverrat. Als zum 50. Jahrestag der "Ereignisse" im Jahr 2005 eine Ausstellung im Stadtzentrum von Istanbul eröffnete, stürmten militante Rechtsradikale die Veranstaltung, bewarfen Fotos mit Eiern, rissen Bilder von den Wänden und skandierten Parolen wie: "Die Türkei ist türkisch und wird türkisch bleiben." Dabei entfalteten sie eine türkische Fahne. Die Polizei nahm drei Verdächtige fest.
Zum 60. Jahrestag sind neben der griechischen Gedenkmesse eine ganze Reihe von Veranstaltungen geplant. Die Plattform "Stoppt Rassismus und Nationalismus" organisiert eine Podiumsdiskussion und zeigt einen Dokumentarfilm über die Geschehnisse von 1955. Ein Verband der damals aus Istanbul vertriebenen Griechen fordert vom türkischen Parlament eine offizielle Verurteilung der Gewalttaten und "positive Schritte", um den Vertriebenen die Rückkehr nach Istanbul zu erleichtern. Eine Antwort aus Ankara steht noch aus.
(KNA - pktko-89-00022)
Auf unserer Hauptseite finden Sie weitere Informationen zu den Themen interreligiöser Dialog und christlich islamischer Dialog.