Historiker: Verhältnis von Staat und Kirche neu austarieren
KNA 02.03.2015
Berlin (KNA) Für eine breite gesellschaftliche Debatte über das Verhältnis von Staat und Kirchen in Deutschland spricht sich der Münsteraner Historiker Thomas Großbölting aus. Beide Seiten hätten sich in einem aus der Nachkriegszeit stammenden Status quo "bequem eingerichtet", sagte Großbölting der "Welt am Sonntag". "Wir haben kein Staatskirchentum, aber auch keinen beziehungslosen Laizismus", umschrieb der Wissenschaftler die bestehenden Beziehungen.
Das habe in den 1950er- und 60er-Jahren hervorragend funktioniert, weil eine überwiegende Mehrheit der Deutschen einer der beiden großen Kirchen angehörte, führte der Wissenschaftler aus. "Die Kirchen haben Wertedebatten angestoßen und in gewisser Weise die ideellen Grundlagen geliefert." Im Gegenzug habe der Staat die Kirchen unterstützt, etwa durch den Einzug der Kirchensteuern oder den kirchlich getragenen Religionsunterricht an staatlichen Schulen.
Weil inzwischen aber der Anteil der Katholiken und Protestanten nur noch bei 60 Prozent liege, gelte es zu prüfen, "wie wir diesen bundesdeutschen Weg so transformieren, dass er den Herausforderungen gerecht wird, die mit der größeren Religionsvielfalt und mit dem Ende der Volkskirchen einhergehen", so Großbölting weiter. Eine Schlüsselrolle spiele dabei der Umgang mit den Muslimen.
Wer eine Unvereinbarkeit des Islam mit demokratischen Werten fürchte, solle sich daran erinnern, dass es noch nicht lange her sei, dass die christlichen Kirchen in Deutschland Auffassungen vertreten hätten, die heutzutage bei muslimischen Gemeinschaften anstößig erschienen, gab Großbölting zu bedenken. Als Beispiel nannte er einen nach Konfessionen und Geschlechtern getrennten Sportunterricht, der noch bis Mitte der 60er-Jahre in Bayern und Baden-Württemberg praktiziert worden sei.
Wichtig sei, dass der Staat alle Religionsgemeinschaften gleich behandele, betonte der Wissenschaftler. "Im Moment gibt es meines Erachtens noch eine gläserne Decke für islamische Gemeinschaften, weil sie nicht kirchenförmig organisiert sind." Er halte es zugleich für richtig, die christlichen Kirchen weiterhin einzubinden - "ohne sie allerdings zu privilegieren", sagte Großbölting. "Ein bisschen mehr Distanz" könne beiden Seiten nicht schaden, auch wenn das in der Konsequenz immer wieder einmal zu Konflikten führe.
Religionsgemeinschaften seien gerade dann erfolgreich, "wenn sie zeigen können, dass sie auf die Diskussionen in der Gesellschaft eigene Antworten haben - Antworten, die deshalb anders ausfallen als die Antworten des Staates, weil sie sich auf eine Transzendenz beziehen", so der Wissenschaftler mit Blick auch auf die aktuelle Debatte um das Kirchenasyl. Im Christentum heiße diese Transzendenz Gott. "Wenn dieser Markenkern, um es im Marketing-Deutsch zu sagen, wegfällt, dann macht Religion sich selbst überflüssig."
Großbölting lehrt an der Universität Münster und ist dort beteiligt am Exzellenzcluster "Religion und Politik". Im Jahr 2013 erschien sein Buch "Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945."
(KNA - pknkl-89-00008)
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