Junge Christen in Gaza sehen sich als "verlorene Generation"
KNA 04.02.2015
Von Andrea Krogmann (KNA)
Gaza (KNA) "Das ist bei uns um die Ecke." Nasim, 29, streckt sein Smartphone in die Luft. Über das Display geht wieder und wieder dieselbe Szene. "Drei, zwei, eins ... bumm!" Lautes Flugzeugbrummen, eine Explosion. Ein Haus in Schutt und Asche. Eine Staubwolke. Dann wackelt das Bild. Jeder in der Runde hat ein Handy. Die Bilder ähneln sich. Wo Gleichaltrige anderswo Fotos ihrer Freundin-nen zeigen, herrscht im Hof der Pfarrei von Gaza ein halbes Jahr nach dem Ende der jüngsten Kämpfe noch immer Krieg.
"Die meisten von uns haben ein psychisches Problem", sagt Jawdatt. Der 23-Jährige hat den Bachelor in englischer Literatur frisch in der Tasche und nur eines im Kopf: raus aus Gaza. Raus aus einem Leben im Krieg. "Ich bin 1992 geboren. 2000 begann die zweite Intifada, 2008 ein Krieg, 2012 ein zweiter. Und 2014, sechs Tage, nachdem ich mein Bachelor-Zertifikat abgeholt habe, der jüngste Krieg. Mein ganzes Leben ist Krieg."
Wenn gerade kein Krieg ist, ist Gefängnis. Die Ausreise via Israel ist unmöglich. Wer unter 35 Jahre alt ist, bekommt keine Genehmigung. Und Ägypten? Nasim grinst. "Gaza ist ein großes Gefängnis. Ägypten hat die Grenze geschlossen - und Gott den Himmel." Sie lachen. Es klingt bitter. "Wir haben zwei Regierungen für ein Land, und sie finden keine Lösung", sagt Nasim.
"Es gibt keine Hoffnung, nicht für Gaza und auch nicht für Palästina", sagt Siraj, 29, seit vier Jahren zurück aus Ägypten und arbeitslos. "An jedem anderen Ort hätte ich Arbeit und könnte Erfahrungen sammeln. Hier in Gaza vergesse ich, was ich gelernt habe. Ich werde ein alter Mann, nutzlos für die Gesellschaft und nutzlos für mich."
"Wir sind eine verlorene und eine erfahrene Generation", meint Jawdatt. Verloren, "weil wir kein normales Leben haben. Aber wir wissen mehr als alle anderen in der Welt über die harten Umstände des Lebens." Ließe man sie, sie würden gehen. Und, so sagen sie, wiederkommen: "mit einem guten Abschluss, um mein Land und meine Kirche weiterzuentwickeln", sagt Jawdatt. "Meine Generation von Christen hier hatte nie die Chance, sich so zu qualifizieren, dass Menschen sagen: 'Diese Christen sind unglaublich.' Aber das ist es, was Jesus will." Pathos klingt mit in seiner Stimme; der trotzige Stolz eines Menschen zwischen allen Stühlen. "Das hier ist das Land Jesu. Das können wir nicht einfach verlassen."
Religion ist ihnen wichtig. Und sie ist Teil des Problems. "In den Heiligen Büchern steht, dass dieses Land den Juden, Christen und Muslimen gehört. So wird der Konflikt nie enden", glaubt Siraj. Ginge es nach ihm, er würde "alle Menschen rausschmeißen, die Religion und Politik vermischen. Ich will keine Fanatiker in meinem Land, ich will Freiheit für mein Land."
Freiheit. Für Siraj heißt das: offene Menschen, aufgeschlossen gegenüber moderner Technik. Und eine Gesellschaft, in der Männer und Frauen gemeinsam leben. "Die Geschlechtertrennung ohne die Freiheit, etwas gemeinsam tun zu können", sagt er, "ist das schlimmste; es ist abnormal." Freiheit ist auch, "einen Kreuzanhänger tragen und sich ein Tattoo stechen lassen zu können". Ersteres traut er sich nicht. "Wir Christen sind eine kleine Minderheit; da kannst du dich nicht frei äußern." Und das Tattoo? "Versuch das mal in Gaza! Die Leute würden dir sagen: haram - nicht von Gott akzeptiert. Verboten." In Amerika, sagt Nasim, "schreibt dir keiner vor, was du zu tun hast. In Gaza fehlt dieser Respekt vor dem Einzelnen."
Und noch etwas fehlt. "Es gibt nichts zu tun. Manchmal gehe ich ins YMCA. Oder ich ziehe durch die Straßen; nachts, weil ich niemandem begegnen möchte." An diesem Abend zieht Nasim nicht durch die Straßen. Er sitzt mit den anderen um das improvisierte Lagerfeuer neben der Kirche. Sie erzäh-len Witze, schneiden Grimassen fürs nächste Selfie. Stolz, selbstbewusst, frustriert. Vielleicht ist der Ton etwas zu laut, zu rau. Ansonsten unterscheiden sich die Jungen am Lagerfeuer kaum von Al-tersgenossen auf der anderen Seite der Grenze. Nur die Displays der Smartphones geben Einblick in die Köpfe. Da läuft weiter der Krieg.
Hinweis: Fotos finden Sie in der KNA-Bild-Datenbank auf www.kna-bild.de oder direkt mit folgendem Link: kna-bild.de/paket/150204-89-00021
(KNA - pkmkn-89-00156)
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